Von Shahnaz Nadjmabadi
In den Dörfern der iranischen Provinz Hormozgan am Persischen Golf, in denen ich seit fast zwanzig Jahren meine ethnologischen Feldforschungen durchführe, erlebt die Bevölkerung bereits den dritten Golfkrieg. Der Iran-Irak-Krieg von 1980-88 wird von den Menschen „Jang e Araq“ (Irak-Krieg) genannt, die Invasion Kuwaits durch den Irak 1991 „Jang e Emrika“ (Krieg Amerikas), nur der Krieg der USA gegen den Irak 2003 hat noch keinen Namen.
Den im Westen mit Vorliebe benutzten und allumfassenden Begriff „jihad“ im Sinne von „heiligem Krieg“ habe ich dort nie gehört. Ein Krieg soll heilig sein? Nein. Auch wenn sie selbst, ca. 700 km entfernt von der irakischen Grenze, unweit der Strasse von Hormuz, nie direkt vom Krieg betroffen waren, so hat die Bevölkerung von Hormuzgan doch die Auswirkungen so stark zu spüren bekommen, dass sie an keinen „heiligen“ Krieg glaubt.
Als zu Beginn des Iran-Irak-Kriegs 1980 die jungen Männer an die Front eingezogen werden sollten, haben viele mit Unterstützung ihrer Eltern und Verwandten Zuflucht in den arabischen Länder des Persischen Golfes gefunden. Jahrelang mussten sie dort bei Verwandten und Bekannten Unterschlupf finden, bis der Krieg endlich vorbei war. Und wie viele aus jener Zeit nie wieder in den Iran zurück gekehrt sind - das kann keiner so richtig sagen. Der Märtyrerkult, sonst im schiitischen Iran stark verbreitet, ist den Menschen hier, die in ihrer Mehrheit Sunniten sind, fremd.
Bei meinem letzten Aufenthalt in Iran im Mai 2002 geriet ich zufällig mit einem Miettaxi in einer kleineren Stadt in der Nähe von Gavbandi, meinem Forschungsgebiet, in eine Trauerprozession. Der Taxifahrer erzählte mir, dass diese Zeremonien in letzter Zeit häufiger stattfinden. Die islamische Regierung in Iran lässt wissen, dass noch sterbliche Überreste der gefallenen Soldaten im Iran-Irak-Krieg (nunmehr 15 Jahre nach Kriegsende) gefunden und identifiziert werden konnten. Begleitet von einer speziell zum Gedenken der Märtyrer organisierten Trauerprozession, werden nun die sterblichen Überreste wieder nach Hause in ihre Heimatorte gebracht. Die Erinnerung an den vergangenen Krieg soll in der Bevölkerung lebendig gehalten werden.
Bedarf es wirklich einer Erinnerung?
Die Möglichkeit eines plötzlichen Kriegsausbruchs am Persischen Golf bleibt den Menschen hier stets im Bewusstsein.
In den sechziger Jahren waren viele aus den Dörfern von Gavbandi ausgewandert, um in der Region Abadan, in der südiranischen Provinz Khuzestan, unweit der irakischen Grenze, wo die ersten Ölbohrungen im Iran vorgenommen wurden, ihr Glück zu versuchen. Aufgrund der Folgen des Iran-Irak-Kriegs und der Zerstörung und Plünderung ihrer Häuser sind viele wieder zurück nach Gavbandi gezogen. Sie werden „jangzadeh“ - die „Kriegsgeschädigten“ genannt.
Unter ihrem Einfluss hat sich eine gesellschaftliche Wandlung vollzogen. Vor allem „Kriegsgeschädigte“, die aus der Stadt Abadan kamen, haben ihre städtische Kultur mitgebracht. Sie haben trotz des Krieges nicht ihr Selbstbewusstsein eingebüßt. Ihre Sprache und Essensgewohnheiten wurden schnell von der restlichen Bevölkerung übernommen. Besonders das Leben der alt eingesessenen Frauen und der Kinder wurde stark beeinflusst. Nicht nur die Hochzeitsriten und die Kleidermode veränderten sich, auch eine neue Schminkkultur besonderer Art wurde von den jüngeren Frauen - zum Ärger ihrer traditionsbewussten Familienmitglieder - übernommen und bestimmte Rituale, wie das Feiern von Kindergeburtstagen, sind nun als ein wichtiges, soziales Ereignis nicht mehr aus der Gesellschaft wegzudenken.
Heute sind die meisten dieser „Zurückgekehrten“ fest in der Region verwurzelt und gehen höchstens noch nach Abadan, um die dort hinterbliebenen Verwandten zu besuchen. Sie haben sich hier, in der alten Heimat, ein neues Leben aufgebaut. Die Männer fanden gute Verdienstmöglichkeiten auf den Transportfrachtern als Kapitäne „nakhoda“ und sichern den Handels- und Transportverkehr zwischen den arabischen Ländern und der iranischen Küste.
Auch beim Kuwaitkrieg 1991 gab es einen Flüchtlingsstrom nach Bandar Lengeh, einem ehemals bedeutenden Handelshafen an der iranischen Küste, und seiner Umgebung. Diesmal waren es die iranische Migranten, die in den fünfziger Jahren nach einer verheerenden Trockenperiode in der iranischen Küstenregion sich auf den Weg nach Kuwait begeben hatten, in der Hoffnung, auf den dortigen Ölfeldern Arbeit zu finden. Ihre Familien reisten ihnen nach und so manch einer ist dort zu großem Reichtum gelangt. Bei der irakischen Invasion von Kuwait 1991 suchten sie Zuflucht im Iran bei ihren Familien und Verwandten in Bandar Lengeh und Umgebung. Sie kamen in ihren großen Cadillacs, was noch lange nach ihrer Rückkehr nach Kuwait einen bleibenden Eindruck auf die hiesige Bevölkerung hinterlassen hat.
Wo immer heute in den arabischen Golfländern ein Konflikt entstehen würde, in der iranischen Küstenregion würden die vom Krieg Vertriebenen stets Zuflucht finden. Denn historisch ist der iranische Küstenstreifen durch wiederholte Auswanderungsbewegungen aus diesem Raum in die arabischen Golfstaaten fest mit jenen verbunden, und die Menschen empfinden ein großes Zusammengehörigkeitsgefühl mit ihren Verwandten beiderseits des Persischen Golfes.
Die Machtergreifung Reza Shahs, seine im Jahre 1936 erlassene Verordnung zur Aufhebung der islamischen Kleiderordnung und die Verstaatlichung des Handelswesens haben große Teile der Bevölkerung Irans veranlasst, ihre Heimat in Richtung arabische Golfländer zu verlassen. Heute besteht fast die Hälfte der Bevölkerung in den Arabischen Emiraten aus Iranern. Die arabischen Länder sind abhängig von den iranischen Arbeitskräften und die iranischen Küstenbewohner sind auf die wirtschaftliche Unterstützung durch ihre ausgewanderten Verwandten in den arabischen Ländern angewiesen. So bilden sie eine Schicksalsgemeinschaft. Jede politische Bewegung oder Veränderung in einem der Länder führt unweigerlich zu Veränderungen und hat Konsequenzen in den umliegenden Länder.
Die ökonomische Abhängigkeit von den arabischen Nachbarn ist für die iranischen Küstenbewohner eine Realität. Mit Wehmut gedenken sie jener Zeit, in der die arabische Bevölkerung an die iranische Küste kam, weil es drüben weder Datteln noch trinkbares Wasser gab. Heute haben die Bevölkerungen jenseits des Persischen Golfes alles und die Menschen diesseits, im iranischen Raum, nichts.
Die Abhängigkeit ihrer Nachbarn von den Amerikanern allerdings beobachten die Iraner mit Unbehagen. Sie werfen ihnen ihre fehlende Selbstbestimmung vor. Bis zur Islamischen Revolution in Iran wurde die Sicherheit des Persischen Golfes durch ein Gleichgewicht zwischen Iran/Irak und den Golfmonarchien bestimmt, immer mit Unterstützung der Briten und später der USA. Erst als in Iran und im Irak die Kräfte sich radikalisierten, sahen sich die konservativen Monarchien gezwungen, von außen westliche Hilfe zu holen.
Kuwait z.B. ist überzeugt, dass es nur mit Hilfe der USA möglich ist, sich gegen die Übergriffe des Iraks zu wehren, der nie die, durch die Briten nach dem zweiten Weltkrieg vollzogene Trennung Kuwaits vom Irak akzeptiert hat. Qatar braucht die amerikanische Unterstützung gegen seinen großen und mächtigen Nachbarn Saudi-Arabien. Es gab zwar immer schon Grenzstreitigkeiten, aber seit Qatar Reformen im eigenen Land durchführen will, die erste Frau als Ministerin berufen hat, und dem kritischen Sender Al Djazira freie Hand lässt, fühlt sich die konservative Führung Saudi-Arabiens öffentlicher Kritik und Bedrohung ausgesetzt. Bahrain pflegt gute Beziehungen zu Saudi-Arabien, erhält von ihm finanzielle Unterstützung, aber zur Erhaltung seiner Minoritätenregierung gegenüber einer schiitischen Mehrheit wird auch hier die militärische Unterstützung von außen benötigt. Und schließlich sind die Arabischen Emirate auf die USA angewiesen als Gegengewicht zu Iran und Saudi Arabien.
Saudi-Arabien selbst sieht sich internen Problemen gegenüber: Einer schiitischen Minderheit, die im Osten des Landes lebt, wo sich die reichen Ölfelder befinden, und den Stämmen im Norden, die durch enge verwandtschaftliche Beziehungen mit den Bevölkerungen im Süden des Iraks verbunden sind. Wegen des starken Widerstands der eigenen Bevölkerung gegenüber der amerikanischen Präsenz auf ihrem Territorium versucht sich Saudi-Arabien aus der engen Verbindung mit den USA herauszulösen und bis Ende 2003 sollen nicht mehr als 5.000 amerikanische Soldaten hier stationiert sein.
Es ist verständlich, dass die Länder am Persischen Golf mit großer Angst und Unruhe auf den Krieg im Irak geblickt haben. Einerseits hofften sie, mit Unterstützung der USA einen politischen Führer, der ihre Sicherheit bedrohte, loszuwerden, andererseits mussten sie mit dem Widerstand der eigenen Bevölkerungen rechnen, die sich gegen den politischen und militärischen Einfluss der Amerikaner in der Region wandten. In jedem Fall bedeutet der Sturz des irakischen Regimes eine große Herausforderung für all diese Länder, um die Lösung anstehender Probleme und dringend durchzuführender Reformen zu beschleunigen.
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008