KRIEG AUS ETHNOLOGISCHER SICHT

Alltagspraxis in kriegerischen Auseinandersetzungen

Von Monika Böck, Aparna Rao, Lioba Lenhart

Bestandsaufnahme

Fast täglich ist in den Medien von Krieg und Gewalt zwischen Gruppen die Rede – die aktuellen Schauplätze der letzten Zeit sind Afghanistan, Irak, Kongo und Palästina. Andere gewaltsame Konflikte der jüngeren Vergangenheit sind beinahe schon wieder in Vergessenheit geraten – so der „Völkermord“ in Ruanda, der „Diamantenkrieg“ in Sierra Leone oder der „Befreiungskrieg“ in Kaschmir. Wiederum andere, von langjährigen Unruhen heimgesuchte Länder – z.B. Nord-Irland oder Mozambique – scheinen kurzzeitig befriedet, doch auch hier berichten die Medien periodisch von immer wieder auflodernder Gewalt. Das letzte Jahrtausend ging mit einem traurigen Rekord zu Ende: Zwischen 1945 und 1992 wurden von den insgesamt 546 registrierten nationalen und internationalen Konflikten 273 – also exakt jeder zweite Konflikt – gewaltsam ausgetragen. Ende der 1990er Jahre waren es noch ca. 35 Kriege weltweit, an denen reguläre militärische Kräfte beteiligt waren. Diese Zahlen würden sich wesentlich erhöhen, wenn man alle lokalen Unruhen einbeziehen würde, in denen sich die gegnerischen Parteien mit Waffen gegenübertraten.

Zur Klassifizierung von Kriegen und Abgrenzung einzelner Phasen gewaltsamer Auseinandersetzungen

Gewaltsam ausgetragene Konflikte werden oft als „ethnisch” oder „religiös”, als „Bürgerkrieg”, „Befreiungskrieg” oder „Revolte” etikettiert. Diese Bezeichnungen sind problematisch. Zwar unterscheidet die Kriegsursachenforschung bestimmte Typen von Krieg, weist aber gleichzeitig darauf hin, dass sich im Falle der meisten Kriege verschiedene Typen überlagern und sich zudem der Charakter eines Krieges im Verlauf der Kampfhandlungen verändern kann.
Die genannten Typen sind:

  • Antiregimekriege, in denen es um den Sturz von Regierenden oder um die Veränderung oder den Erhalt des politischen Systems oder der Gesellschaftsordnung geht;
  • Autonomie- und Sezessionskriege, in denen um größere regionale Autonomie innerhalb eines Staatsverbandes oder um Sezession vom Staatsverband gekämpft wird;
  • zwischenstaatliche Kriege, in denen sich Streitkräfte der etablierten Regierungen mindestens zweier staatlich verfaßter Territorien gegenüberstehen, und zwar ohne Rücksicht auf ihren völkerrechtlichen Status;
  • Dekolonisationskriege, in denen um die Befreiung von Kolonialherrschaft gekämpft wird;
  • sowie sonstige innerstaatliche Kriege.

Die Einordnung eines Krieges hängt stark von der Perspektive des Betrachters ab. Die jeweiligen Konfliktparteien tendieren dahin, einzelne Aspekte je nach Kontext zu betonen und im Sinne ihrer Interessen zu benutzen. Auch können während der Gesamtdauer eines Konfliktes Phasen mehr oder weniger gewaltsamer Auseinandersetzungen wechseln.

Ein Beispiel dafür, dass Kriege durch eine Vielzahl von Aspekten charakterisiert werden können, ist der Kaschmir-Konflikt, der 1947 begann und seit 1989 bis heute mit offener Gewalt geführt wird: Er wurde in seinen Anfängen als Antiregimekrieg etikettiert, dann als Sezessionskrieg dargestellt, setzte sich als zwischenstaatlicher Krieg fort und erscheint auf ideologischer Ebene als Dekolonisations- bzw. Religionskrieg. Beispiele schwelender Konflikte, in deren Verlauf trotz geschlossener Waffenstillstandsabkommen immer wieder Gewalt aufflammt, sind Kongo und Palästina.

Erfahrung und Alltagspraxis in kriegerischen Auseinandersetzungen: Opfer und Täter

Gesellschaften im Krieg oder Bürgerkrieg sind oft von Misstrauen und Hass gekennzeichnet. Das Erleben eines andauernden Zustands von Rechtlosigkeit und Gewalt führt zum Verlust des sozialen Zusammenhalts, infolgedessen die meist ungeahndet bleibenden Rechtsbrüche zunehmen. Jeder Einzelne hat Grausamkeiten erfahren, die selbst erlitten oder ehemaligen Freunden, Nachbarn oder Kollegen während des Krieges zugefügt wurden. Dies erzeugt Gefühle von Schuld, Vergeltung und Rache, die oftmals das Ende eines Krieges oder aber ein „normales“ Zusammenleben nach dem Krieg verhindern.

In den rechtlosen Räumen, die während eines Krieges entstehen, bilden sich nicht selten kriminelle Banden, die von den offiziellen Militärs mitunter als Milizen und paramilitärische Kräfte rekrutiert werden – was beispielsweise in Osttimor in der Endphase der indonesischen Besetzung der Fall war. Neben den kriminellen Banden nutzen auch Kriegsherren, Soldaten und Milizen die Macht, die sie durch den Krieg über Land, Ressourcen und den nicht bewaffneten Teil der Bevölkerung erlangen, um sich persönlich zu bereichern. Während sich die Gewinne, die durch einen Krieg erzielt werden, bei wenigen Gruppen konzentrieren, werden die Verluste in den meisten Fällen von der breiten Bevölkerung getragen.

Verletzungen und Verstümmelungen von Zivilisten sind in vielen Fällen Abschreckungstaktiken, um deren Kooperation mit der gegnerischen Seite zu unterbinden – dies wurde während der bewaffneten Auseinandersetzungen in vielen Teilen Südasiens, in Ex-Jugoslawien, Ruanda, Mozambique und anderen Regionen der Welt offenbar. Zudem werden Vergewaltigungen als Instrument eingesetzt, um eine gesamte Gemeinschaft systematisch zu demütigen und die „Ehre der Gemeinschaft“ der Aggressoren geltend zu machen bzw. ihre „verletzte Ehre“ zu rächen. Dass die Kinder, die nach diesen Vergewaltigungen geboren werden, wegen der vermeintlichen Schande für die betroffene Familien und die gesamte Gruppe häufig ausgesetzt oder in Waisenhäusern abgegeben werden, drang erstmals im Falle von Bosnien in größerem Umfang an die Öffentlichkeit.

Frauen sind in vielen dieser Kriege jedoch nicht nur Ziele und Opfer von Gewalt, sondern auch Unterstützerinnen – wie zum Beispiel in Nordirland; sowie Täterinnen – zum Beispiel die palästinensischen oder tschetschenischen Selbstmordattentäterinnen und die Soldatinnen in vielen Armeen der Welt. Ebenso werden in vielen Kriegen Kinder als Soldaten „rekrutiert” und dabei nicht selten gewaltsam aus ihren Familien entführt. In einigen Fällen dienen Mädchen und Jungen bereits im Alter von sechs Jahren den Militärs als Spione, Lastenträger, Köche oder Konkubinen – zum Beispiel in der seit vielen Jahren andauernden Auseinandersetzung zwischen den Streitkräften der Zentralregierung und Rebellen im Norden Ugandas.

Während langandauernder bewaffneter Konflikte wächst eine Generation heran, für die der Krieg die ausschließliche Alltagserfahrung darstellt. Kinder und Jugendliche lernen, ihr Verhalten der Kriegssituation anzupassen, was beispielsweise im Libanon und in Palästina beobachtet werden konnte und kann. Vor allem junge Männer haben häufig nichts anderes erlernt als den bewaffneten Kampf, der ihnen auch zur Sicherung ihres Lebensunterhalts dient. Der Frieden beraubt sie dieser Existenzgrundlage und macht sie mittellos – wie Beispiele aus Afghanistan, Liberia, Somalia und dem Sudan belegen.

Zudem sind Kriege ein immerwährendes Thema in den Medien, die Kriegsursachen in der Regel stark simplifiziert darstellen. So ist beispielsweise vom „Krieg um Öl“, vom „Krieg um Wasser“, vom „Heiligen Krieg“, vom „Stammeskrieg“ oder vom „ethnischen Säuberungskrieg“ die Rede. Auch tragen Medien häufig dazu bei, Gewaltbereitschaft zu verstärken – Beispiele hierfür sind die BBC-Videos über Liberia, Radioberichte in Ruanda oder Berichte des pakistanischen Fernsehens über Kaschmir.

Welche Fragen stellen Ethnologen? Zur Diskussion innerhalb der Ethnologie

Jeder Krieg, gleichgültig wie ausgedehnt seine Verflechtungen sind, wird auf der lokalen Ebene ausgetragen – und hier sind Ethnologen gefragt, welche die Alltagspraxis von Kriegen vor Ort fokussieren und in eine Diskussion der weitreichenden, oft globalen Verknüpfungen einbinden. Hierbei führen sie eine Debatte mit Nachbardisziplinen, die ebenfalls zum Thema forschen, nämlich Psychologie, Soziobiologie, Verhaltensforschung, Pädagogik, Soziologie und Politologie.

Ethnologen beschäftigen sich mit den Veränderung von sozialen Beziehungen während und nach einem Krieg vor dem Hintergrund und in Wechselwirkung mit wirtschaftlichen, religiösen, politischen und kognitiven Prozessen. Folgende Fragen stehen im Vordergrund:

  • Inwieweit zerstört ein Krieg das bisher bestehende soziale Gefüge? Inwiefern verändern sich die sozialen Beziehungen in ihrer Qualität, wenn sich die Bedingungen ändern, unter denen soziale Netze existieren? Werden soziale Netze erweitert, z.B. über nationale Grenzen hinweg? Wie verändern sich Bedeutung und Beschaffenheit verwandtschaftlicher, nachbarschaftlicher und ähnlicher Netzwerke während und nach einem Krieg? Wie werden alte sowie neue, durch den Krieg generierte soziale Beziehungen von der Bevölkerung (z.B. zur Überlebenssicherung) und von den Konfliktparteien (z.B. zur Sicherung von Ressourcen) genutzt?
  • Welche Rolle spielen Frauen und Kinder in Kriegs- und Nachkriegszeiten als Teil sozialer, politischer und wirtschaftlicher Netze?
  • Inwiefern fördert oder verhindert der Krieg soziale Mobilität? Auf welchen Ebenen formieren sich neue Machtgruppen? Wie sehen die Grundbedingungen für Kooperation aus bzw. wie wird Kooperation unter gesetzlosen Zuständen erzeugt?
  • Inwiefern beeinflussen demagogische Strategien und Propaganda das individuelle Verhalten und das Gruppenverhalten?
  • Bleiben bestimmte Elemente des alltäglichen Lebens erhalten, auch wenn Kriege die „normalen“ Alltags-Interaktionen verändern? Existieren soziale, ökonomische und politische Wechselbeziehungen, die auch in diesen Notzeiten verbindend zwischen Individuen und Gruppen wirken oder diese Bindungen gar stärken?
  • Welche sozialen und kulturellen Elemente (Einstellungen, Interessen und Verhaltensweisen von Individuen und Gruppen, sowie Institutionen, Normen, Werte, Symbole, Ideologien) trennen die gegnerischen Parteien und wirken damit Kriegs-fördernd, welche verbinden beide Seiten und sind somit dem Frieden dienlich? Welche Systeme und Strategien der gewaltfreien Konfliktbewältigung gibt es innerhalb der Gesellschaften, die in kriegerischen Auseinandersetzungen aktiviert werden können?
  • Wie werden der Konflikt und die Konfliktursachen in den Medien dargestellt? Wir wird die „Wir-Gruppe“ dargestellt, wie der Gegner, wie die Beziehungen zwischen den Gruppen? Wie werden Menschen durch Bilder oder Berichte motiviert, Gewalt auszuüben bzw. wie wird vorhandene Gewalt gesteigert? Wer sind die Verantwortlichen solcher medialen Repräsentationen, welche Zielgruppen werden angesprochen? Welche Rolle spielt das Internet in Kriegen, welchen Einfluss haben Websites und Newsgroups auf ihren Verlauf?

Das Thema der Transformation von sozialen Beziehungen während und nach Kriegen und die diesbezüglichen Forschungen von Ethnologen und Vertretern benachbarter Disziplinen sind für die praktische Arbeit internationaler Hilfsorganisationen – etwa im Bereich der Friedens- und Versöhnungsarbeit sowie der Flüchtlingsarbeit und Trauma-Behandlung – höchst relevant und werden interdisziplinär diskutiert. Ein Beispiel hierfür ist das „Local Capacities for Peace"-Projekt, das die sozialen Prozesse von Bürgerkriegen analysiert, um internationalen Hilfsorganisationen die Ansatzpunkte für Kriegsfolgenbewältigung und Aufbauarbeit aufzuzeigen und zu verhindern, dass diese Organisationen mit ihren Aktionen Konflikte unbeabsichtigter Weise weiter am Leben erhalten.

Die Ethnologie verfügt über einen ausgefeilten Theorie- und Methoden-Apparat zur Analyse und Interpretation von sozialen Prozessen, die sich auf die Abläufe in Kriegs- und Nachkriegssituationen anwenden lassen. Darauf aufbauend wurde am Kölner Institut für Völkerkunde Konfliktforschung als ein Forschungsschwerpunkt eingerichtet. In diesem Rahmen werden sowohl kulturvergleichende Untersuchungen durchgeführt als auch ethnographische Fallstudien erarbeitet.

Zur weiteren Lektüre empfehlen wir:

Amnesty International 1995. Human Rights Are Women’s Rights. London: Amnesty International.
Bollig, Michael 1992. Die Krieger der gelben Gewehre. Münster: Lit.
Botthby, Neil G. & Christine M. Knudsen 2000. Children of the Gun. Scientific American, June 2000, S. 60-65.
Curare 22,1:1999. Trauma - Verletzung von Körper und Seele. Berlin: VWB.
Elwert, Georg et al. 1999. The Dynamics of Collective Violence - An Introduction. Sociologus, Beiheft 1, S. 9-31.
Honke, Gudrun & Sylvia Servaes 1994. Europas Blick auf Afrikas Katastrophen: Der Krieg in Ruanda in der deutschen Presse. Zeitschrift für Kulturaustausch 44, S.343-349.
Jean, François & Jean-Christophe Rufin (Hrgs.) 1999. Ökonomie der Bürgerkriege. Hamburg: Hamburger Eds. (orig.: 1996. L’Economie des Guerres Civiles. Paris: Hachette.)
Orywal, Erwin 2002. Krieg oder Frieden. Eine vergleichende Untersuchung kulturspezifischer Ideale - der Bürgerkrieg in Belutschistan/Pakistan. Berlin: Reimer
Orywal, Erwin, Aparna Rao und Michael Bollig (Hrgs.) 1996. Krieg und Kampf: Die Gewalt in unseren Köpfen. Hamburg: Reimer.
Trotha, Trutz von 1997. Soziologie der Gewalt. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 37.
Verwey, Martine (Hrg.) 2001. Trauma und Ressourcen – Trauma und Empowerment. Curare, Sonderband 16.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008