Von Eva Ch. Raabe
Die Sprache der Kunst ist universell!“
„Ein gutes Kunstwerk bedarf keiner Erklärung – es erschließt sich dem Betrachter aufgrund allgemein gültiger ästhetischer Regeln!“
Diese Argumente werden in Diskussionen um zeitgenössische Kunst nichteuropäischer Kulturen oft vorgebracht. In den westlichen Industrienationen beurteilt man auch die Gegenwartskunst anderer Kulturen meist nach den Regeln europäischer Kunstentwicklung. "Kunst" ist ein europäischer Begriff mit europäischer Geschichte. Oft wird es uns daher gar nicht bewusst, wie befangen wir aufgrund unserer europäischen Kunsterziehung bei der Deutung und Beurteilung nichteuropäischer Kunst vorgehen. Bei der Betrachtung eines uns fremden Kunstwerkes orientieren wir uns an kulturell Vertrautem und stellen nicht die Frage, welche für die Herkunftskultur spezifischen Bestandteile das Werk außerdem noch ausmachen.
Es ist selbstverständlich, dass Künstler mit Elementen wie Formen und Farben arbeiten, die aufgrund allgemeiner physischer Merkmale von allen Menschen wahrgenommen werden. Daher spricht die Kunst nichteuropäischer Kulturen immer auch allgemein menschliche Sehgewohnheiten an. Obwohl wir erkennen, dass Bildbestandteile in Rot oder Blau abgebildet sind, dass sie runde oder eckige Formen darstellen, können wir den Gesamtzusammenhang aber nicht deuten, da in uns bei der Bildbetrachtung ganz andere Assoziationen emporsteigen als die vom kulturell anders sozialisierten Künstler beabsichtigten. Es gibt zahlreiche ethnologische Untersuchungen, die zeigen, dass in allen Kulturen hell und dunkel, weiß und schwarz symbolisch unterschieden werden und nahezu überall die Grundfarben Rot, Blau und Gelb wahrgenommen und sprachlich bezeichnet werden. Das bedeutet jedoch nicht, dass mit diesen Farben überall die gleichen Eigenschaften und Stimmungen verbunden oder die gleichen Gegenstände assoziiert werden.
Das Bild „mwali abstraction“ des Malers Samuel Luguna bietet ein gutes Beispiel für die kulturell geprägte Bedeutung bestimmter Farben. Lugunas abstrahierende Darstellung des in der Realität hauptsächlich aus weißen Seeschnecken bestehenden kula -Armrings mwali ist überwiegend in leuchtenden, geradezu ins Auge stechenden Rot- und Orangetönen gehalten. Nur einige wenige kleine Details des Bildes sind in Blaugrau dargestellt. Die Teilnehmer eines Seminars, denen die Aufgabe gestellt wurde, aus einer Auswahl von fünf Bildern der Ozeaniensammlung des Frankfurter Museums der Weltkulturen ein ihnen unbekanntes Werk zur weiteren Bildbesprechung auszuwählen, schlossen das Gemälde Lugunas – ganz entgegen meiner Erwartung - als eins der ersten aus. Mich hatte das Bild von Anfang an fasziniert, da die zentrale Bedeutung des kula -Schmucks im Leben der Trobriander darin mit den Mitteln der Farbe auf besondere Weise hervorgehoben wird.
Der junge Künstler stammt von Kiriwina, einer der Trobriand-Inseln in Papua-Neuguinea, auf denen man auch heute noch ein besonderes Ringtauschsystem praktiziert: Im kula kursieren zwei Arten von Wertobjekten, Armringe ( mwali ) und Halsketten ( soulava ). Diese Gegenstände zirkulieren in einander entgegengesetzten Himmelsrichtungen im Kreis der Handelspartner. Armringe werden immer gegen Halsketten getauscht und umgekehrt. Armringe bewegen sich gegen, Halsketten jedoch mit dem Uhrzeigersinn von Insel zu Insel. Die stetige Zirkulation steigert den Wert von Armringen und Halsketten. Ein kula -Teilnehmer hat mindestens zwei Tauschpartner – zur geographischen Rechten und Linken. Diese Partnerschaften bestehen ein ganzes Leben lang. Der kula -Handel etabliert so soziale Beziehungen und gegenseitige Verpflichtungen zwischen den Bewohnern unterschiedlicher Inselgruppen.
Die Farbe Rot spielt auf den Trobriand-Inseln eine bedeutende Rolle bei der Bemalung von kraftgeladenen Objekten wie den Giebelfronten der Yamsspeicher von Häuptlingen oder den Bugbrettern der großen Boote für die kula -Expeditionen der Männer. Mit leuchtendem Rotorange werden die Faserröcke eingefärbt, die den Frauen in besonderen Zeremonien als Tauschobjekte dienen. Die gleiche Farbe dominiert auch die kurzen Faserröcke junger, unverheirateter Mädchen und den gesamten Tanzschmuck junger Leute. Ein Rosarot ist die Grundfarbe der kula -Halsketten, deren Mittelstrang aneinander gereihte Plättchen aus der roten Schale einer Tiefseemuschel bilden. Durch einen Aufenthalt auf den Trobriand-Inseln, das Betrachten entsprechender Fotos und durch meine Arbeit in der Frankfurter Ozeanienabteilung bin ich mit diesen Gegenständen vertraut. In meiner Vorstellung verbindet sich die trobriandische Kultur immer mit leuchtenden Rottönen. Und obwohl gerade bei den kula -Armringen in Wirklichkeit eher das Weiße dominiert, ließ mich doch die freie künstlerische Verbindung von Weiß und dem - geradezu Wärme abstrahlendem - Rot in Lugunas Darstellung sofort spüren, dass hier eine zentrale, in der trobriandischen Kultur treibende Kraft zum Ausdruck gebracht wurde: Der kula -Handel ist ein Sinn stiftender Bestandteil des Lebens der Inselbewohner und ist verbunden mit Wettstreit, aufgeregter Freude und festlicher Stimmung.
In einem Interview bestätigte mir der Künstler, dass er im kula -Schmuck eine besondere identitätsstiftende Bedeutung innerhalb der trobriandischen Kultur sehe. Sein Stilmittel, die Gegenüberstellung von warmen und kalten Farben, beruhe einerseits auf der während seines Kunststudiums erlernten europäischen Farblehre - die Rot und Orange zu den warmen, Blaugrau zu den kalten Farben zählt -, andererseits aber auch auf den Traditionen der Trobriand-Inseln, nach denen Rot als "heißer" und kraftgeladener Farbe eine besondere zeremonielle Rolle zukomme.
Obwohl auch in der europäischen Vorstellung Rot oft mit Lebensfreude verbunden wird, kann das Bild einem nicht mit der trobriandischen Kultur vertrauten Betrachter so grellrot erscheinen, dass er damit eine andere mit der Farbe Rot assoziierte Stimmung, nämlich Aggressivität, in Verbindung bringt. Die Seminarteilnehmer konnten in der Darstellung des kula -Armringes keinen konkreten Gegenstand erkennen, da ihnen das Objekt selbst und die damit verbundene Ideenwelt gänzlich unbekannt waren. Daher konnten sie die Verbindungskette "Trobriand-Inseln - Rot, kula - Sinn stiftende Kräfte" nicht herstellen und reagierten unbewusst ablehnend auf die hervorstechende Farbigkeit des Bildes.
Wir können uns von Kunstwerken spontan angezogen oder abgestoßen fühlen - wir können sie betrachten und uns unseren eigenen Assoziationen hingeben. Um ihrer tieferen Bedeutung nachzuspüren, bedarf es aber auch einer Beschäftigung mit der Kultur und Lebenswelt der Künstler.
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008