SUCHE, WAS DU BRAUCHST

Ethnopsychoanalytische Fallgeschichte eines Himba-Hirten in Namibia

Von Volker Friedrich

Ich berichte über M., den ich auf zwei ethnopsychoanalytischen Exkursionen 1999 und 2002 getroffen habe und mit dem ich mich erproben durfte, ein ethnopsychoanalytisches Gespräch zu führen. Für mich war es Neuland. Ich wollte versuchen, über die seelischen Lebenstatsachen von Menschen in einer anderen Kultur ein analytisches Setting und psychoanalytisches Gespräch herzustellen. Es gab dabei eine wichtige Rahmenbedingung für dieses Gespräche: Ich suchte den Gesprächspartner in seinem Kulturraum auf und dabei war auf die Unterstützung eines Übersetzers und fachliche ethnologische Beratung angewiesen. Weil ich mit der Seele eines Rinderhirtennomaden arbeiten wollte, stellte ich mich auf diese neuen Rahmenbedingungen ohne Zögern ein. Dazu gehörte auch eine gewisse Aktivität in der Begegnungssuche: Ich musste fragen, ob M. mit mir sprechen wollte und ich musst ihn aufsuchen, unter Umständen auch weit weg von meinem Camp. Wie jeder Himba-Mann war er immer unterwegs, mobil und agil.

Die Fallgeschichte
Als ich ihn das erste Mal traf, war ich gebannt von seiner Erscheinung: ein schöner prächtiger Mann, aufmerksam, munter, selbstbewusst. Ich fragte ihn ohne Zögern und Scheu, ob er mit mir sprechen wollte. Das wollte er. Aber er kam nicht zum vereinbarten Gespräch. Ich musste warten. Zufällig traf ich ihn dann wieder. Ich ruhte im Schatten eines Baumes, war erschöpft - jetzt war er bereit mit mir zu sprechen. Also muss ich doch warten, bis er von sich aus kommt.
Im ersten Gespräch näherten wir uns einander an. Er gab mir einen intensiven Einblick in sein Alltags- und Liebesleben; ich erfuhr vom frühen Tod der Mutter, dem komplizierten Verhältnis zum Vater, von seiner Überzeugung, dass dieser gegen ihn eingestellt sei, ihn verhext und ihm Krankheiten besorgt habe, seine Tiere verhext habe, damit er kein erfolgreicher Hirte würde. Er führte mich in das Gehöft seiner Schwiegermutter, stellte mir seine damals hoch schwangere Frau vor, seine Schwiegermutter, deren alte Mutter und weitere Verwandte. Am Tag meiner Abfahrt gebar seine Frau; ich konnte das Baby nicht mehr besuchen, M. nur Geschenke übergeben. Das hat ihn sehr traurig gestimmt.

Drei Jahre später kam ich erneut; dieses Mal mit sechs Wochen Zeit. Meine Ankunft musste ihm vorher bekannt gemacht worden sein. Ich erfuhr im Vorfeld der Begegnung, dass seine Frau vor sechs Monaten im Wochenbett gestorben war und dass er nicht in der Region sei. Ich war deprimiert. Andere Gesprächspartner gaben mir von sich aus weitere Informationen: ein schlimmes Geheimnis, eine für ihn belastendes Erfahrung. Es hieß, seine Schwiegermutter wolle mit ihm eine Nacht verbringen und sexuellen Kontakt haben. Das alarmierte mich.

Wochenlang war ich auf der Suche nach ihm. Ich war Tage und Nächte unterwegs, weit weg von meinem Camp, bis ich ihn mit seinen zwei kleinen Söhnen auf dem so genannten Rinderposten fand. Der Rinderposten ist eine Art Alm, wo die jungen Hirten wohnen. Ich fand ihn tief traurig. Aber er erkannt mich sofort wieder und war bereit zum erneuten Gespräch. Wir hatten zehn kostbare Sitzungen, in denen er mir einen tiefen Einblick in seine Seelenqual gab. Er schien gescheitert, ausgegliedert aus der Gemeinschaft der Himba, einer, der auf die Ressourcen seiner Verwandtschaft angewiesen war, jemand, der zu gerne Alkohol trank, den ambulante Händler lieferten, jemand am Abgrund der Armut. Im Verlauf der Gespräche stabilisierte sich sein Zustand. Er zeigte mir ein Geheimnis. Zwei Rinder, Kinder einer Rindermutter, die er seinerzeit, vor dem Tod der Mutter, von dieser wie ein Vermächtnis erhalten hatte. Das eine Tier war wild und stark, das andere zugänglich und gezähmt. Das Geheimnis des inzestuösen Wunsches der Schwiegermutter vertraute er mir ganz am Schluss unserer Begegnung an. Es war nicht mehr zu bearbeiten. Dieses Mal konnte er keinen Abschied nehmen, er verschwand einfach. Jetzt war ich traurig.

Bemerkungen des Ethnopsychoanalytikers
Die Erfahrung mit M. 1999 hatte mich überrascht und gefreut. Es war möglich, mit ihm über alle Fremdheit hinweg in ein Gespräch zu kommen und eine Beziehung einzugehen. Er war traurig, traurig über den frühen Verlust der Mutter und traurig über die vergiftete Beziehung zum Vater. Mit mir belebte er seine Vater-Sehnsucht wieder. Es kann gut sein, dass er viele Jahre darüber gar nicht sprechen konnte, weil es in ihm noch nicht so weit war und weil er niemanden fand, der ihn zum assoziierenden Sprechen brachte. Ich erlebte ihn auf seiner Suche nach etwas, was er gebrauchen konnte und brauchte: so lautete sein Spitzname. Vielleicht ist er deshalb auf mich gestoßen. Er ist jemand, der immer etwas benötigt – vielleicht ist er bei mir auf den Kern einer Suche gestoßen. Damit meine ich, dass die Begegnung mit mir und meinem Mut, ihn auf seinen Schmerz und seine unglaublichen Zorn anzusprechen, ihn zu sich geführt hat. In wie weit Liebe steckte in seiner missglückten Beziehung zu seinem Vater und der Suche nach der schon früh verlorenen Mutter, konnte ich nur vermuten. Es war möglich, dass die Enttäuschung durch den Vater so tief und unerbittlich war, weil dieser nicht fähig war, den Schmerz und die Traurigkeit über den frühen Verlust der Mutter aufzufangen, ihn zu trösten, ihm zu helfen bei sich zu bleiben und den Verlust auszugleichen. Gerade weil der Vater ihn in seinem Bemühen, ein guter Hirte der ihm anvertrauten Tiere zu sein, verfolgt, verletzt, betrogen und zurückgestoßen hatte, hat er in ihm einen Stachel der Unzufriedenheit, der Zerrissenheit und Depression gelegt, der im Gespräch deutlich wurde.

Beim zweiten Besuch 2002 war ich gespannt, wie ich ihn und mich wieder auffinden würde. Würde es möglich sein, wieder an unsere Beziehung an zu knüpfen, das Gespräch fortzuführen? Als ich nach drei Jahren wieder kam, war ich erschrocken. Die Gewalten des Lebens hatten sich erneut auf ihn ausgewirkt. Er hatte seine Frau im Wochenbett Anfang des Jahres verloren, das Kind, ein Sohn, lebte bei seiner Schwägerin, weit weg von ihm. Seine 1999, in der Zeit meiner Abfahrt, geborene Tochter war ohne Sprache. Ob sie gehörlos war durch eine Krankheit oder ob es ein psychisches Problem war, weiß ich nicht. Er war wirtschaftlich und sozial am trostlosen Ende der ökonomischen Wirklichkeit eines Himba-Nomaden angekommen. Durch den Tod seiner Frau war die Aussicht auf weitere Erben dahin. Eine Ehefrau ist eine elementare wirtschaftliche und kulturelle Lebensbedingung - für ihn wie für jeden Himba-Mann. Allein, ohne Ehefrau ist ein Hirte nicht existenzfähig. M. hatte nicht, wie es üblich war, seine wirtschaftliche Existenz auf eine zweite oder mehr Ehefrauen aufgebaut. Er liebte nur diese eine. Dies ist ungewöhnlich, der Himba-Mann hat viele Frauen und Freundinnen, die Himba-Frau ebenso.

Das Gespräch bot eine vertiefte Exploration seiner Seelen-Schicksale. Die verlorene Ehefrau mit ihrem Verwandtschaftsanhang war in seinem Leben sehr früh an die Stelle der in seiner Kindheit verlorenen Mutter getreten. Ohne sie scheint es kein selbst bestimmtes Leben zu geben. Jetzt ist er auf die symbolische Erbschaft der Mutter angewiesen: auf die zwei Rinderkinder, der von der Mutter in einer weisen Voraussicht geschenkten Kuh - „M.´s Brust“ genannt. Diese beiden Rinderkinder zeigten unterschiedliche Temperamente, es gab ein friedfertiges Tier, dem wir uns nähern und es berühren durften und ein unruhiges aggressives Tier, dessen Nähe besser zu meiden war. Das alles fand ich vor. Er steckte in einem tiefen Trauerprozess, im sechsten Monat nach dem Tod seiner Frau.

Ethnografische Aspekte
Zum Schluss einige Anmerkungen aus der ethnologischen Beratung zu diesem Fallmaterial: Die Himba-Kultur kennt keine natürliche Todesursache, der Tod ist immer Ausdruck von Verhexung. Die Kultur besitzt das Ahnenfeuer, die Beziehung zu den Ahnen; gestorben ist keiner so, wie wir meinen, es zu wissen. Der Verhexung weicht man aus, indem man die Person, die verhext hat, flieht, den Ort der Verhexung meidet, einen Heiler aufsucht – stets eine kostspielige Angelegenheit.

Geweint wird meist nur im Rahmen der Trauerzeremonien, bei schlimmen Trennungen. Weinen aus Verzweiflung, verzweifeltes Weinen bringt Unglück, das wird vermieden.
Bei der ersten Begegnung hatte er mir mit der Geste eines reifen erwachsenen Mannes, Geld angeboten, ein absolutes Herzensangebot. Ich hatte es nicht angenommen - hier spielt mein Problem mit dem Schenken hinein. Für ihn war es ein Affront - ein Kultur-Zusammenstoß zwischen uns beiden.

Ein tragisches Missverständnis auch meine Worte: „schlechte Gedanken“ als ein Deutungsversuch, sich am Tod der Ehefrau schuldig zu fühlen. Er konnte dieses mein Denken nicht verstehen. „Schuldgefühle“ oder „schlechte Gedanken“ sind missverständlich, weil sie Ausdruck von verhexen sind. Deshalb fragte er nach: „Und das denkst Du?“ Dabei war er sehr traurig.

Was habe ich versucht dagegen zu setzen? Mein Vertrauen in die Möglichkeit der Verständigung über die Lebenstatsachen des Menschen jenseits der Grenzen unserer Kulturen, mein Vertrauen in das psychoanalytische Gespräch und die daraus entstehende psychoanalytische Beziehung. Dazu gehören so elementare Kräfte wie das Triebleben, Affekte wie Wut, Zorn, Hass, Liebe, inzestuöse Liebeswünsche, das Schuldgefühl. Ich habe das Aufeinanderprallen der zwei Kulturen riskiert. Ich bin mit den Machtmitteln meiner Kultur gekommen, dazu gehören das Auto, das Zelt, die Lebensmittel, das Wasser, das Geld und mein Wissen. Alles das habe ich in eine Kultur hinein getragen, in der die elementaren Lebensressourcen äußerst knapp und lebensbedrohlich verteilt sind. Ich kam im Gefolge der vorrückenden Zivilisation, die die Angehörigen dieser Kultur in den letzten Jahrzehnten verstärkt heimgesucht hat.

Und doch ging ich davon aus, es gibt eine Begegnung von gleich zu gleich, auch die Vertiefung der Beziehung zwischen uns ist möglich. Ich bin überzeugt, es ist gelungen, mit Hilfe der psychoanalytischen Haltung und Methode ein psychoanalytisches Setting zu etablieren, in dessen Rahmen sich eine dichte Übertragungs–/Gegenübertragungsbeziehung entwickelt hat.

Im Forschungsfeld war ich sehr erschöpft, angestrengt gefordert von dieser Arbeit, aber ich war auch tief befriedigt und hypomanisch erregt. Jetzt aus der Ferne betrachtet kommt der Gedanke an das Fremde wieder. Wo ist es geblieben? Es muss doch auch im Material enthalten sein, sonst wäre alles falsch.

Ein Bericht von der ersten Reise 1999 ist im Tagungsband der Frühjahrstagung der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV) 2001 (Kongressbüro Geber & Reusch, Mannheim) enthalten. – Die ethnologische Beratung lag bei Anke Kuper, der Name des Übersetzers lautet Uhangatenua Kapi: letzterer ist mir ein guter Freund und Begleiter geworden. Seine Übersetzerarbeit hat einen großen Anteil an den mir möglich gewordenen Erfahrungen. - In der Curare 32 (2009) 3+4 wird der erweiterte Konferenz-Beitrag (AGEM, Kassel 2005), der die Ergebnisse vor dem Hintergrund Devereuxscher Konzepte interpretiert, erscheinen.



Zum Autor
Dr. med. Volker Friedrich, Psychoanalytiker und Facharzt für psychosomatische Medizin in Hamburg, Lehranalytiker am Michael Balint Institut Hamburg


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008