ANGST UND METHODE IN DEN VERHALTENSWISSENSCHAFTEN

Ein noch immer aktueller Klassiker von Georges Devereux

Von Peter Möhring

Möhring Devereux
Georges Devereux (1908-1985) (Archiv-Foto Curare /AGEM)

Devereux hat in „Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften“ von 1973, das als ein Hauptwerk gilt, aus der psychoanalytischen Perspektive eine grundsätzliche Kritik an verhaltenswissenschaftlicher Methodologie formuliert. Er weist nach, dass „Verhaltenswissenschaftliche Daten“ – ein Begriff, den Devereux sehr weit fasst - durch Angst vor dem Gegenstand der Betrachtung verzerrt werden können. Er geht davon aus, dass sich jegliche Beobachtung am oder im Individuum abspielt und damit dem Regime der subjektiven Gegenübertragung und ihrer zugrundeliegenden verdrängten psychischen Inhalte unterworfen wird. Die Feststellung: “Und dieses nehme ich wahr“, läuft darauf hinaus, dass notwendigerweise auch dazugehört: „Dafür nehme ich jenes nicht wahr“.

Ein ungewöhnlicher Denker
Devereux ist ein ungemein präziser Denker, der immer ideenreich, oft überraschend und nie einfach ist, der oft polemisiert und attackiert, dabei aber stets auf eine bewundernswerte Weise der Wahrhaftigkeit verpflichtet ist. In einem Gespräch im Sommer 1983 zwischen ihm und Ulrike Bokelmann (veröffentlich in Duerr „Die wilde Seele“) findet sich eine Beschreibung seines Denkens: "Wenn ich eine Idee habe, sehe ich nie nach, ob jemand anderes schon darüber geschrieben hat. Die Bibliografie füge ich immer am Schluss hinzu. Ich habe gelernt, dass mein Kopf nicht wie der der anderen funktioniert, und wenn ich eine Idee habe, ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass niemand sonst sie gehabt hat. Ich glaube, ich habe einen Blick wie das Kind in ‘Die neuen Kleider des Kaisers‘: ich sehe, was die anderen nicht sehen. Ich habe einen ‘unschuldigen‘ Blick. Ich erinnere mich noch, ich war ganz jung, nicht einmal 11 Jahre alt, da habe ich gesagt, man muss sich einen ungetrübten, unverbildeten Blick bewahren, ‘nackt sein wie am Tag der Geburt aus dem Schoß seiner Mutter‘. Und ich glaube, diese Fähigkeit zur ‘Nacktheit‘ ist eine meiner besten Eigenschaften".

In „Die wilde Seele“, einer Festschrift für Devereux, ist ein von ihm im Januar 1985 verfasstes Nachwort angefügt. Er war da bereits in einem so schlechten körperlichen Zustand, dass er zum Atmen ständig künstlichen Sauerstoff benötigte. Sein Kopf sei noch immer jung, aber der Körper könne leider nicht mehr mitmachen, teilte er in einem kurzen Resümee mit, bevor er sich mit den einzelnen Beiträgen dieses Bandes auseinandersetzt: teilweise sehr freundlich, wohlwollend, fast zärtlich, aber dort, wo er es für nötig hielt, gewohnt polemisch, dabei doch in seiner Kritik zumeist zielsicher, dabei sehr scharf, mit ungebrochen klarem Verstand, und mit einer Reihe von Kostproben eines geradezu enzyklopädischen Wissens, das ihm auch noch auf dem Krankenbett, vier Monate vor seinem Tod, zur Verfügung stand.

Zu der Festschrift führte er aus, dass es immer lange gedauert habe, bis seine Ideen sich durchsetzten. Als er zwölf Jahre alt war, hätten seine Mitschüler ein Spottlied über einige seiner Ideen gesungen. "Angst und Methode" sei 30 Jahre lang ein ungedrucktes Manuskript geblieben. Niemand habe es sich ansehen wollen. Von der Festschrift sagt er, dass sie auch eine Art Grabrede sei. Der Tod sei nichts. Er habe ihn nie gefürchtet. Man könne sich bloß einen leichten Tod wünschen. Aber man möchte wissen, ob es sich gelohnt hat zu leben und zu streben. Man könnte sich fragen, ob man etwas geleistet hat, weil die Tatsache, dass man lebt, als eine Aufgabe zu verstehen sei. Als etwas anderes könne er sie nicht betrachten. Er habe versucht, wenig Zeit zu vertrödeln, er habe Fehler gemacht, aber nichts, dessen er sich schämen müsste, er habe Liebe zu den Frauen empfunden. "Kurz: ich tat, was ich tun konnte. Mehr kann niemand von mir verlangen."

Das Verhältnis von Angst und Methode bei Devereux
Der Dreh- und Angelpunkt jeglicher Verhaltenswissenschaft sei eher die Gegenübertragung als die Übertragung, so lautet die These von „Angst und Methode“. In der verhaltenswissenschaftlichen Erforschung des Menschen vom Menschen ist er zugleich Objekt und Beobachter. Wenn aber der Beobachter gleichzeitig auch Objekt der Beobachtung ist, kann das Angst und infolgedessen abwehrende Gegenübertragungsreaktionen hervorrufen, die wiederum die Wahrnehmung und Deutung von Daten verzerren und Gegenübertragungswiderstände hervorbringen, die sich gerne als Methodologie tarnen. Verhaltenswissenschaftliche Daten erregen also Ängste, die durch eine von der Gegenübertragung inspirierte Pseudomethodologie abgewehrt werden. Devereux geht davon aus, dass dieses Manöver für nahezu alle Mängel der Verhaltenswissenschaft verantwortlich ist. Diese These entwickelte er an 439 Beispielen, die er "Fälle" nennt; diese Arbeitsweise nennt er seine „induktive Methodik“.

„Gegenübertragung“ ist für Devereux - in der Folge Freuds - die Summe aller Verzerrungen, die in der Wahrnehmung des Psychoanalytikers von seinem Patienten und in seiner Reaktion auf ihn auftreten. Sie führen dazu, dass er auf einen Patienten reagiert, als wäre dieser eine von seinen frühkindlichen Imagines. In der analytischen Situation verhält er sich so, wie es seinen eigenen gewöhnlich infantilen unbewussten Bedürfnissen, Wünschen und Fantasien entspricht.
Devereux will Quellen der Verzerrung bei der Beobachtung, Sammlung und Interpretation von Daten in Bezug auf die Persönlichkeitsstruktur des Wissenschaftlers diskutieren, soweit sie sich bei der Feldforschungsarbeit wie auch bei seinen Versuchen, seine eigenen Daten und die anderer zu analysieren, manifestiert. Die Persönlichkeit des Wissenschaftlers sei für die Verzerrung des Materials verantwortlich. Bewusst nicht wahrgenommene Details werden jedoch unbewusst wahrgenommen und können dann beispielsweise in Träumen auftreten. Verzerrung ist dort besonders ausgeprägt, wo das beobachtete Material Angst erzeugt. Daraus entsteht die Tendenz, sich gegen die Angst zu schützen, indem bestimmte Teile seines Materials unterdrückt, entschärft, nicht auswertet, falsch versteht, zweideutig beschreibt, übermäßig auswertet oder neu arrangiert werden.

Ursache der Angst in der verhaltenswissenschaftlichen Forschung ist für Devereux, dass die Untersuchung fremder Kulturen den Ethnologen bzw. Anthropologen oft dazu zwingt, bei der Feldforschung menschliches Verhalten zu beobachten, das er bei sich selbst verdrängt. Diese Erfahrung löst nicht nur Angst aus, sondern kann zugleich auch als Verführung erlebt werden.

Ängste werden auch durch störende „Überkommunikation“ zwischen dem Unbewussten des Beobachters und dem des Beobachteten hervorgerufen (Devereux meint damit einen unbewussten gleichzeitig erregenden und störenden intensiven Interaktionsvorgang, der parallel zur sichtbaren Handlungsebene stattfindet). Manchmal verbindet sich die Abwehr gegen „Überkommunikation“ auf der Ebene des Unbewussten mit einer Abwehr gegen Unterkommunikation (mangelnde Verständigung) auf der Ebene des Bewusstseins. Ein charakteristischer Ausweg aus diesem Dilemma sei das ängstliche Kleben an „harten Fakten“. Devereux schlägt vor, Abwehrreaktionen eines Verhaltensforschers stets genau zu untersuchen.

In „Angst und Methode“ beschäftigt sich Devereux ausführlicher mit einem Beispiel, in welchem er zeigt, wie anthropologische Daten bei Psychoanalytikern Angst erregen können. Es geht dabei um einen Film, in welchem in sehr direkten Aufnahmen ein australischer Beschneidungs- und Subinzisions-Ritus gezeigt wird, bei dem der Penis der Länge nach bis zur Harnröhre aufgeschnitten wird. Devereux zeigte den Film einer größeren Gruppe von Analytikern und Analytiker-Kandidaten. Nach der Vorführung ließ er sich von den Zuschauern detaillierte Darstellungen ihrer Träume und/oder psychosomatischen Reaktionen mitteilen, die durch den Film hervorgerufen worden waren.

Während der Vorführung bemerkte er Zeichen offensichtlichen Missbehagens. Einige Betrachter verließen während oder unmittelbar nach dem Höhepunkt der Subinzision das Auditorium. Die Träume, Assoziationen und symptomatischen Reaktionen zeigten unbewusste Reaktionen auf den Film und ähnelten sich in gewisser Weise. Sie enthielten Abwehrmanöver wie Verleugnung, Verschiebung, Verleugnung der Relevanz, Zweifel und Ungewissheiten schützenden Charakters, Momente oraler Regression, geographische (an einen anderen Ort) oder zeitliche (in eine andere Zeit) Flucht. Unterschiedlich reagierten die Analytiker auf Fragen nach ihren Träumen und die Bitte um Mitarbeit. Einer wandte sich ohne Antwort ab, als hätte er nichts gehört (Verleugnung), zwei weitere gaben an, nicht geträumt zu haben (Verdrängung).

Unter den Träumen, die Devereux berichtet wurden, waren zum Beispiel folgende: Einer berichtete einen wiederholten Angsttraum, in dem seine Mutter darüber ihr Missfallen ausdrückte, dass der Träumer sich weigerte, etwas Bestimmtes zu tun. Die psychoanalytische Interpretation führte zu unbewusster Abwehr der Angst, von der Mutter kastriert zu werden. Ein weiterer träumte eine Soldatenszene, in der Russen und Amerikaner sich vertrugen, gemeinsam Hühnerkeulen aßen und guten Willen zeigten, anstatt, wie es der damaligen internationalen Lage entsprochen hätte, zu kämpfen. Die Analyse eines solchen Traums führt zu Abwehr von Aggression, Reaktionsbildung, sowie oraler Regression. In einem weiteren Traum tauchte ein Bus mit einer kompliziert zu öffnenden Spalte auf (verfremdete Darstellung der Subinzision). Teilweise konnte Devereux die Träume zusammen mit den Träumern durcharbeiten. Alle Träume ließen sich recht leicht mit dem Film über die Inzision, also mit der Präsentation anthropologischen bzw. ethnologischen Datenmaterials, in Verbindung bringen.

Träume ermöglichen einen leichteren Zugang zum Unbewussten und jeder verwendet und verfremdete das Film-Material im Traum so, wie es seiner individuellen Psychologie entspricht. Devereux zeigt in „Angst und Methode“, dass die Menschen letztlich auch im Wachzustand, und zwar vor allem unbewusst, und für sie selbst nicht erkennbar, vergleichbar verfahren. Jeder sieht, denkt und fühlt dasjenige in seine Wahrnehmung hinein, was ihm entspricht.

Perspektiven
Devereux untersuchte Wahrnehmungsverzerrungen immer in Hinblick auf die daraus folgenden Handlungen oder Unterlassungen. Er fragte, inwieweit Denken und Handeln des Menschen von seiner realitätseingeschränkten Wahrnehmung bestimmt wird, wobei die Einschränkung einerseits vom eigenen Unbewussten, andererseits aber auch von seiner jeweiligen Umwelt ausgeht. Die Lösung des Problems ist nach Devereux nicht, sich von aller Objektivität zu verabschieden, sondern die Subjektivität als Schlüssel zur Analyse der Wahrnehmungsverzerrung zu benutzen und so zu einer weniger subjektiven Wahrnehmung zu gelangen. Wahrnehmung beeinflusst immer auch die Sicht auf die Konsequenzen einer Handlung. So könnte man zum Beispiel vermuten, das jemand, der die Kastrationsdrohung unbewusst vor allem in Zusammenhang mit Frauen bringt, zu anderen Fragestellungen und Ergebnissen kommt als jemand, der die Abwehr seiner Kastrationsangst über orale Regression und Reaktionsbildung gegen Aggression vollzieht.

Der bewusste Umgang mit der eigenen Subjektivität kann beispielsweise in der Feldforschung dazu führen, dass die Ausblendung bestimmter Fakten wahrgenommen werden kann. Weitergeführt wird dieser Ansatz in der Arbeit von Mario Erdheim, der in diesem Sinne dargestellt hat, dass man nicht vom Fremden sprechen kann, ohne auch von sich selbst zu sprechen, weil die Wahrnehmung des Fremden so eng mit der eigenen Geschichte verknüpft ist. Eine „Pendelbewegung zwischen der fremden und der eigenen Kultur“ kann für den Forscher zum Instrument des Erkennens werden. Eine Voraussetzungen dafür, dass eine solche psychische Arbeit geleistet werden kann, ist zum Beispiel die von Maja Nadig entwickelten ethnopsychoanalytschen Deutungswerkstatt, wo ethnologisches Material ethnopsychoanalytisch aufbereitet wird.


Weiterführende Literatur
Bokelmann U. (1987): Georges Devereux. In: Hans Peter Duerr: Die wilde Seele. Zur Ethnopsychoanalyse von Georges Devereux. Frankfurt/M: Suhrkamp
Devereux, G.(1973) Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften. München: Hanser
Devereux, G. (1987): Nachwort in: Hans Peter Duerr: Die wilde Seele. Zur Ethnopsychoanalyse von Georges Devereux. Frankfurt/M: Suhrkamp
Erdheim M. (1982): Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit. Frankfurt/M: Suhrkamp
Krueger, A. (2008): Die ethnopsychoanalytische Deutungswerkstatt. In: U. Freikamp, M. Leanza, J. Mende, S. Müller, P. Ullrich, H.-J. Voß (Hrsg.): Kritik mit Methode? Forschungsmethoden und Gesellschaftskritik. Berlin: Karl Dietz Verlag

Zum Autor
Dr. Peter Möhring, Psychoanalytiker und Lehranalytiker in der DPV (IPA), Privatdozent Für Psychosomatik und Psychotherapie an der Universität Gießen. Forschungs- und Interessenschwerpunkte: Psychoanalyse und Ethnopsychoanalyse, onkologische Psychosomatik, psychoanalytische Kulturanthropologie, forensische Psychiatrie und Psychotherapie. Seit 1993 in eigener Praxis tätig, davor langjähriger Mitarbeiter am Zentrum für Psychosomatische Medizin der Universität Gießen unter Prof. Dr. Dr. H.-E. Richter.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008