von Erika Dahlmanns
Ubumwe , was in der Landessprache Kinyarwanda „Einheit“ oder „Gemeinsinn“ bedeutet, ist das Schlagwort der ruandischen Versöhnungspolitik seit dem Ende des Genozids von 1994, in dem zahllose Ruanderinnen und Ruander Täter waren oder als Opfer geschändet oder massakriert wurden. Die Regierung unter Präsident Kagame steht heute vor der Herausforderung gesellschaftliche Spannungen zu überwinden und Zukunftsperspektiven aufzuzeigen, die von Opfern und Tätern gleichermaßen als Chancen angenommen werden können. Rückbesinnung auf die eigene Kultur soll Auswege aus der sozialen Krise weisen und helfen, soziale Identitäten, die durch die Erfahrung des Genozids verstärkt wurden, neu zu definieren. So ist das auf die Zukunft verweisende Ideal Ubumwe zugleich verbunden mit einem Rückblick auf das vorkoloniale Königreich, das von der Regierung als eine idealtypische Gesellschaft beschrieben wird, in der alle Ruanderinnen und Ruander - Hutu, Tutsi und Twa - in Frieden und frei von Vorstellungen ethnisch-rassischer Differenz gemeinsam lebten. Die neue Regierungssymbolik antizipiert Einheit für die Zukunft.
Zur Konfliktbearbeitung werden wieder belebte traditionelle Instanzen wie die Gacaca-Gerichte oder die wenig bekannten Ingando-Solidaritätscamps eingesetzt, in denen unterschiedliche Bevölkerungsgruppen über den Genozid aufgeklärt werden und durch gemeinsames Marschieren, Tanzen und Singen ein Gefühl von Zusammengehörigkeit entwickeln sollen. Diese Orte, an denen sich Konfliktgruppen begegnen, ermöglichen eine Auseinandersetzung über Vergangenheit und Zukunft. Trotzdem bleibt Versöhnung in Ruanda in erster Linie eine staatliche Initiative, ein politisches Programm, das Idealbilder entwirft und nicht unbedingt mit den Vorstellungen der Bevölkerung konform geht.
„Doch welches Bild haben ruandische Bürger von ihrer gesellschaftlichen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft?“ Diese Fragen stellten sich während meines Aufenthalts bei der „Kommission für Nationale Einheit und Versöhnung“ im Jahr 2006 und gaben Anstoß zu einer Befragung, in der Ruanderinnen und Ruander mit sehr verschiedenen Lebenshintergründen ihre Gesellschaftsvorstellungen zeichneten und beschrieben. Etwa die Hälfte der 134 Zeichner war wegen Genozidverbrechen inhaftiert, die andere Hälfte bestand aus AbiturientInnen, die ein Training in einem Solidaritätscamp durchliefen oder als Beamte in der nationalen Versöhnungskommission arbeiteten. Geprägt durch die koloniale Rassenlehre von der Überlegenheit der Tutsi, durch die seit der Hutu-Revolution (1959) verbreitete Anti-Tutsi-Propaganda, sowie durch die heutige Politik zur nationalen Versöhnung werden die Aspekte „ethnisch-rassische Differenz“ und „nationale Einheit“ in den Bildern häufig thematisiert. Dabei zeigen sie eine typische, zur ruandischen Kultur in Beziehung stehende Symbolik, der sie in individueller und kreativer Weise Ausdruck verleihen.
Beginnen wir mit dem Bild vom Königshof, in dem sich die banyarwanda (Menschen aus Ruanda) um ihren König scharen. Hinter dem König bewacht ein Wächter den Stier ( ruasanga ), das königliche Symbol. Die Banyarwanda lauschen den Reden ihres Königs und trinken gemeinsam mit langen Bambushalmen aus dem Krug ( icyungo ) mit Sorghobier (Hirsebier) ( ikagage ). Es ist das Bild einer harmonischen Gemeinschaft, wie sie viele Zeichnungen zum vorkolonialen Ruanda zeigen. König und Krug sind in diesen Bildern häufig Symbole für tiefe Verbundenheit. Sie werden meistens in Festszenen gezeichnet und bilden dabei eine Art Mittelpunkt, um den sich die Gemeinschaft kreisförmig zusammenfindet. Hutu, Tutsi und Twa sind hier in ein gesellschaftliches Ganzes integriert, arbeiten, teilen, feiern und kämpfen gemeinsam für ihren König, der in seinen Erzählungen die Erinnerung an einen gemeinsamen Ursprung bekräftigt. Ein Bild des dreibeinigen Königthrons, dessen Beine für die Gruppen Hutu, Tutsi und Twa stehen, symbolisiert beispielsweise die Stabilität des vorkolonialen Reichs durch die Integration der Gruppen in ein gesellschaftliches Ganzes.
Andere Bilder zeigen die Beziehung zwischen Hutu und Tutsi als eine ungleiche Beziehung zwischen reichen Viehbesitzern und armen Landarbeitern, vergleichbar einer Beziehung zwischen Machthabern und Unterdrückten. Stier oder Kuh werden dabei in manchen Zeichnungen zum Symbol für soziale und ethnische Differenz. Auch der König, der dem Abanyginia „Tutsi“-Clan entstammte, steht manchmal für eine ungerechte Tutsi-Herrschaft, die die Hutu-Bevölkerung unterdrückt. Unterschiede in der Darstellung von Größe, Haarbeschaffenheit und Nasenform visualisieren rassische Differenzen zwischen Hutu und Tutsi und geben dem Betrachter einen Hinweis auf den nachhaltigen Einfluss der europäischen Rassenlehre.
Meistens jedoch sind Hutu, Tutsi und Twa brüderlich verbunden in einer Gemeinschaft, in der sie ohne Unterschiede - oder auch trotz gewisser Unterschiede - in Frieden miteinander leben. Auf die Darstellung der vorkolonialen Gesellschaft folgen nicht selten Illustrationen zu Kolonisation und Segregation oder Zeichnungen zum Genozid. Während die Kolonisation das zerstörerische Potential des Divisionismus in die Gesellschaft bringt, entfaltet sich im Genozid seine volle destruktive Kraft: Menschen werden dazu gebracht, sogar ihre Nachbarn zu massakrieren.
Die Darstellungen des heutigen gesellschaftlichen Lebens thematisieren vor allem die Spuren des Genozids, die Versöhnungs- und Aufarbeitungsbemühungen der Regierung und die moderne Lebensweise. Manche Bilder zeigen ein von Friedhöfen übersätes Ruanda, Menschen mit Narben und Machetenverletzungen, unglückliche Menschen, gekappte Bäume und zerrissene Kleidungsstücke als Symbole für die zerstörten gesellschaftlichen Beziehungen. Menschen sind in den Zeichnungen zur heutigen Gesellschaft seltener zu sehen und stehen häufig isoliert und voneinander abgewandt in einer Atmosphäre sozialer Kälte, die begründet wird durch die Erfahrung des Genozids und die Abwesenheit traditioneller Werte, die im vorkolonialen Ruanda den Gemeinschaftssinn stützten und nun durch den Kapitalismus und den Individualismus ersetzt wurden. Diese Bilder illustrieren nicht selten den Verlust einer sozialen Mitte, ein Auseinanderrücken der Menschen in unterschiedliche Richtungen und den Verlust der traditionellen Einheitssymbolik. Die banyarwanda trinken heute nicht mehr aus einem Krug, sondern jeder für sich aus einer eigenen Flasche. Doch auch die Anstrengungen der Regierung um Versöhnung sind Thema vieler Zeichnungen. Versöhnungsszenen, in denen Hutu und Tutsi aufeinander zugehen oder idealisierte Darstellungen der heutigen Lebensverhältnisse, illustrieren den Wunsch nach gesellschaftlichem Frieden.
Inwieweit kann Bildbetrachtung die Ethnologie inspirieren? Es scheint, dass die Auseinandersetzung mit Bildern dazu beitragen kann, befremdlichen Themen auf eine andere Weise näher zu kommen als durch einen den Sinn diktierenden Text. Bildbetrachtung kann die Lektüre von Texten wohl nicht ersetzen, dafür aber Aufschluss über die Visualisierung existierender Konzepte von Einheit und Differenz, von Inklusion und Exklusion in ihrer kulturspezifischen Form geben und darum vielleicht auch für die Analyse von gesellschaftlichen Konflikten interessant sein. Gemeinsamkeiten und Unterschiede, die in gesellschaftlichen Krisen zur Schau gestellt werden und häufig Bestandteil von Konflikten sind, werden auffällig häufig auch an sichtbaren Merkmalen festgemacht. Man denke dabei zum Beispiel an den Judenstern oder an die stereotypen Zeichnungen der Rassenlehre, an Nationalflaggen und Symbole. Die Psychologie lehrt, dass soziale Informationen nicht selten über nonverbale Zeichen vermittelt, erkannt, gelernt und häufig sogar besser erinnert werden als das gelesene oder gesprochene Wort. Auch deshalb erscheint es wichtig zu fragen, welche Bilder es sind, die Konzepte von Einheit und Differenz, von Inklusion und Exklusion visualisieren und über Generationen hinweg transportieren. Die Ethnologie mit ihrer Tradition und Expertise für das Sammeln und Beschreiben fremder Objekte und Darstellungen im kulturspezifischen Kontext, aber auch die interdisziplinäre Bildwissenschaft, könnten hier einen Beitrag zur Erforschung von Friedens- und Konfliktprozessen leisten.
Dahlmanns, Erika (2007): Re-imagining Ruanda: Zwischen „ethnischer Identität“ und „nationaler Einheit“- Eine Untersuchung zu postgenozidalen Versöhnungsperspektiven. Magisterarbeit im Fach Völkerkunde. Völkerkundliche Bibliothek der Universität Marburg.
Erika Dahlmanns, M.A. der Völkerkunde, promoviert seit April 2008 an der Universität Marburg zum Thema „Spannungsfelder-Spannungsbilder: Darstellungen und Inszenierungen von Einheit und Differenz in Ruanda nach dem Genozid“.
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008