MATRIX VERSUS THE GHOST IN THE SHELL

Die neuen Mythen der virtuellen Welt sind nicht mehr allein diskursiv analysierbar

Von Thomas Becker

Die Simulation von Welt dürfte seit dem Hollywoodfilm Matrix der Wachowski Brüder von 1999 zum Mythos geworden sein, der mehrere Animes und Online-Computerspiele inspirierte. Die durch die postrukturalistische Medientheorie eines Jean Baudrillard ausgelöste Prophetie von der simulierten Welt des digitalen Zeitalters, die in der Lage sei, ihre eigene Realität herzustellen, geriet damit zu einem massenkulturellen Mythos der Postmoderne.

Die Gebrüder Wachowski berufen sich neben mehreren literarischen und filmischen Quellen auch auf den Anime von Mamoru Oshii The Ghost in the Shell (1995), der seinerseits auf den gleichnamigen Manga (1991) von Massume Shirow zurückgeht. Der Begriff Matrix in Zusammenhang mit dem Thema einer durch Computervernetzung simulierten Welt taucht jedoch zum ersten Mal in Bill Gibson Cyberpunk-Roman Neuromancer von 1984 auf – also immer noch deutlich später als die Essays von Baudrillard. Aber weder die originäre Theorie Baudrillards noch der Cyperpunk-Roman sind zum Anreiz für Animes und Online-Spiele des Massenmarktes geworden. Dem diskursiv geäußerten Verdacht einer simulierten Welt fehlt die stimulierende Kraft zum massenmedialen Mythos. Erst der mit dem Computer möglich gewordene virtuelle Bilderstrom hat ihn zum Mythos des Massenmarktes werden lassen. Auf der Ebene der virtuellen Massenmedien herrscht nicht mehr der Diskurs allein.

Im Vergleich zu Animes ist der Hollywoodfilm zu sehr am narrativen Medium eines Drehbuches orientiert, um die Anreizung des Imaginären durch den Mythos der simulierten Welt zu reflektieren. Animes arbeiten indes mit Storyboards, Testbildern, dokumentarischen Fotografien etc., so dass dem Drehbuch in der Herstellung eines Plots der Prozess der intermedialen Zeichenverkettung auf unterschiedlichsten Niveaus gleichberechtigt gegenübersteht; in der Produktion von Animes kann das Drehbuch sogar vollständig ersetzt werden, was für die Entstehung eines Hollywoodfilms undenkbar ist. Oshiis Anime zeigt die Personen in Dialogszenen stets nur im flächigen Stil eines gezeichneten Mangas, womit Diskurse einen grafischen Beigeschmack erhalten. Dem stehen lange Sequenzen einer durch eine japanische Großstadt im Regen fahrende Kamera gegenüber, die einen bewegten tiefenscharfen Raum präsentiert und dabei jeden Diskurs meidet: Bilder, die mit ihrem assoziativ gelockerten Blick eines modernen Großstadtmelancholikers auf den kalten elektronischen Bilderstrom in regenschwarzen Asphaltspiegelungen zur kultischen Ikone von The Ghost in the Shell geworden sind. Die Parallelisierung von Spiegelbild und Leinwand ist dabei deutlich dem Imaginären Lacans verpflichtet, was auch in Dialogszenen kaum zu überhören ist.

Der Mythos Matrix erfordert eine neue Definition dessen, was Mythen und deren Decodierung in der virtuellen Massenkommunikation sein können. Roland Barthes’ berühmte Definition in Mythologies von 1957 fasste jedenfalls den Mythos in erster Linie als Verwechslung von Natur und Gesellschaft. Die gesellschaftliche Praxis erscheint danach im Mythos als eine Art natürliches Sein. Eine Rose ist eben keineswegs einfach eine Rose, sondern eine leidenschaftliche Rose. Sie ist nicht reine Natur, wie es im Mythos als selbstverständlich erscheint, sondern ihre Bedeutung ist durch sozialen Gebrauch definiert. Im Falle des Mythos Matrix läuft ein solcher Verdacht der Ontologisierung ins Leere. Dieser postmoderne Mythos wird nämlich vom Verdacht wie vom gleichzeitigen Begehren angetrieben, dass alles durch und durch produziert und verfügbar ist. Nicht Ontologisierung, sondern der Verdacht eines Mangels an substanziellem Sein ist mit dem Begehren nach Befreiung von der Faktizität des Seins im Mythos der virtuell erzeugten Welt harmonisch vereint. Die historische Genealogie dieses mythischen Begehrens im Zeitalter der virtuellen Massenkommunikation kann in diesem kurzen Artikel nur sehr kursorisch vorgestellt werden.

Umberto Eco definiert das virtuelle Bild in Anlehnung an die physikalische Optik als Bild, das solange besteht, wie die Ursache des Bildes existiert. Eine camera obscura liefert also genauso virtuelle Bilder wie ein Spiegel. Aber mit dem Auftauchen der Fotografie im 19. Jahrhundert sind virtuelle Bilder zum ersten Mal speicherbar geworden. Auch technische Reproduzierbarkeit existierte lange vor dem 19. Jahrhundert. Walter Benjamin verkennt dies, wenn er die Fotografie eine technische Reproduktion nennt. Das ist die Lithografie oder der Stich ebenso. Aber ein virtuelles Bild existierte bis zur Entstehung der Fotografie trotz der schon seit der Renaissance bekannten Massenkommunikation eben nur als Unikat.

Mit der Speicherung von virtuellen Bildern durch die Fotografie konnte ein Massenmarkt entstehen, der zwei diametral entgegengesetzte Formen des Begehrens in die mythische Harmonie nach unendlich sich erweiternder wie gleichzeitig störungsfreier Kommunikation zusammenfassen und damit steigern konnte. Zum einen beschreiben alle Diskurse im 19. Jahrhundert den radikalen Dokumentcharakter der Fotografie, was lange Zeit dazu führte, ihr den Kunstcharakter abzusprechen. Dieser Diskurs betrifft das Begehren nach der Abbildung des unvernommenen Augenblicks, sei es im Sinne der Zeugenschaft oder sei es im Sinne der unkontrollierbaren Innovation.

Zum anderen aber unterstützt die Fotografie durch ihre schnelle und billigere Art der Reproduktion standardisierte Bildformeln. Benjamin bezeichnet dies auch als Zunahme des Sinns für Ähnlichkeiten. Diese Tendenz zielt auf das Bedürfnis nach Orientierung in einer Welt der multimedialen Massenkommunikation, die uns kognitiv stets zu überfordern droht. Während die Sichtbarmachung des Unvernehmbaren das noch nicht Codierte ins Bild setzt, zielt der Sinn für Ähnlichkeit auf Reproduktion redundanter Codes. Die beiden Formen des Begehrens schließen sich eigentlich aus, sind aber mit der Fotografie zum ersten Mal synthetisierbar geworden. So verlangte der Industriefotograf Disderi am Ende des 19. Jahrhunderts für das fotografische Porträt, dass man stets einen für jedermann decodierbaren Kontext inszenieren müsse, weil sonst die soziale Bedeutung einer Person durch den Dokumentcharakter der Fotografie zerstört werde. Mit dem virtuell speicherbaren Bild wurde das Begehren nach orientierender Seinsordnung mit dem diametral entgegengesetzten Bedürfnis nach spielerischer Kontingenz synthetisierbar.

Dass Barthes am Ende der fünfziger Jahre auf dieses Phänomen in den die Fotografie benutzenden, spezifisch modernen Mythen aufmerksam wurde, lag an den neuen Produktionstechniken virtueller Datenströme. So stellt das Fernsehen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine neue Qualität der massenhaften Übertragung virtueller Daten dar, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bislang nur für das Radio bekannt war: In der Direktübertragung können virtuelle Daten ohne den Umweg der Speicherung massenhaft vertrieben werden. Es ist offensichtlich, dass damit das Fernsehen zum einen den Sinn für das Kontingente und Dokumentarische verstärken kann. Zum anderen schließt die massenhafte Distribution des virtuellen Bildes im Fernsehen jedoch nicht die Speicherung aus. Eco verweist daher darauf, dass die Bildregie in Direktübertragungen traditionellste Erzählmuster benutzen, die eher an Aristoteles erinnern als an moderne Poetiken. Das mit dem Fernsehen auftauchende Fantasma einer uncodierten Wahrnehmung in der Direktübertragung bietet also das bessere Alibi für Reproduktion altbekannte Muster.

Die virtuelle Massenkommunikation per Computervernetzung stellt inzwischen aber eine weitere neue Qualität der Datenübertragung dar: Der Markt der Produzenten kann mit dem Markt der Konsumenten zusammenfallen. Speicherung und Direktübertragung können vollkommen identisch werden. Decodierung und Encodierung nähern sich in der virtuellen Massenkommunikation zeitlich so sehr an, dass in dieser Konstellation das Begehren nach codeloser Direktheit zum unendlichen, nie erfüllbaren Wunsch mutiert, weil er selbst immer schon mit der Codierung zusammenfällt. Das Begehren nach Ordnung kann sich mit dem Begehren nach Direktheit nur noch mittels des Verdachts der Übercodierung vermählen. Die virtuelle Massenkommunikation ruft bei traditionellen Medien den horror vacui vor dem mangelnden Zentrum der Produktion hervor wie etwa im Hollywoodfilm, der das Begehren nach Codelosigkeit als endgültige Erlösung vom Imaginären mit dem Motiv des jüdisch-christlichen Heilsversprechens zum Ausdruck bringt, um das Monopol des Bildproduzenten als orientierendes Zentrum der Massenkommunikation zu bewahren.

Auch wenn die Mischung von computergenerierten 3D- und gezeichneten 2D- Bildern im Anime keine Erfindung von Oshii ist, so weiß er doch, die für Animes bekannte Lust an der optischen Spielerei des auf ein einziges synchrones Bild hin vereinten Blicks durch zwei unvereinbare Kameralinsen für eine visuelle Bewusstmachung der Kollaboration von Begehren und Verdacht in Dienst zu nehmen.

Während das Gesicht in dieser Szene durch den Blick durchs Teleobjektiv auf identifikatorische Nähe hin angelegt ist, bedient die synchrone Perspektive des Weitwinkelobjektivs vielmehr die durch den film noir zum Topos gewordene Entfremdungstechniken des Expressionismus: Das in dieser Szene mit Cyborgs im Dialog mit teleobjektiver Nähe repräsentierte Gesicht des Geheimagenten ist in der Tat eine Fläche für projizierende Identifikation für die Zuschauer, weil er zugleich die einzig menschliche Person vor dem Hintergrund eines unter Kühlung stehenden Forschungslabors für Roboter ist; die im Hintergrund erscheinende Person, welche die Roboterschablonen prüfend in den Blick nimmt, ist sein ihm überlegener Partner der Untersuchung: ein Cyborg. Der Blick der ‚falschen’ Linse fungiert daher als subjektiver Kamerablick des Publikums: Er macht den Verdacht des Zuschauers, der glaubt zu wissen, wie falsch und verzerrt er durch ein das menschliche Auge simulierendes Roboterauge wahrgenommen wird, seinerseits als alptraumhaft verzerrtes Vorurteil des menschlichen Unterbewussten gegenüber hybriden Wesen explizit. Der japanische Anime nimmt hier eine distanzierend kritische Stellung gegenüber dem Reinheitswunsch nach einer vom technischen Gestell zu erlösenden Menschheit ein, was als rassistische Urangst des Humanismus entlarvt wird. “I believe that throughout history“, so Oshii in einem Interview, “intersubjective communication has been too often privileged. … . If humans do not yet know themselves, it may be because they have always approached the human person in relation to other human beings. I am concerned with other types of relationships.”

Baudrillards Verdacht des Imaginär-Realen dürfte daher wohl selbst nichts anderes als die Fortsetzung eines romantisch-mythischen Begehrens nach apparatfreier Intersubjektivität darstellen. Die neuen Mythen virtueller Bilder sind mit diskursiven Mitteln allein nicht mehr objektivierbar, da auch Diskurse imaginär sein können, wo längst Bildproduktionen des virtuellen Massenmarktes die reflexiv elaborierte Distanz eines avantgardistischen Blicks vorantreiben. Disney dagegen hatte für seine formale Umsetzung in seinen Produktionen immer auf in Schulen schon kanonisierte Avantgarden gesetzt. Der amerikanische Zeichentrickfilm des Massenmarktes war daher immer von der Dominanz des Diskurszeitalters geprägt.

Weiterführende Literatur
Benjamin, Walter (1974/1935): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser (Hg.): Gesammelte Schriften, Bd. 2. Frankfurt a. Main
Barthes, Roland (1957): Mythologies. Paris
McLuhan, Marshall(2001/1964): Understanding Media. The Extensions of Man. London
Baudrillard, Jean (1976): L’Échange symbolique et la mort. Paris
Eco, Umberto(1984/1964): Apokalyptiker und Integrierte. Zur Kritik der Massenkultur. Frankfurt a. Main

Zum Autor
PD Dr. Thomas Becker, Kulturwissenschaftler, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste der FU Berlin, Projekt: Der Comic auf dem Weg zur legitimen Kunst.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008