Von Bettina Weiz
Rund die Hälfte aller Inder und Inderinnen kann weder lesen noch schreiben. Zugleich sind indische Experten der Informationstechnologie ein Exportschlager. Ihre Regierung setzt große Hoffnungen in die Kommunikationstechnologie. Aber im Land der 1001 Lebensentwürfe haben auch Experten der Informationstechnologie viele Gesichter.
Tod und Trommel: Die herkömmlichen IT-Experten
Eine hilfreiche Bö trägt die Nachricht in die niedrigen Häuser und Hütten des südindischen Dorfes Oragadam: „Baladschis Mutter ist gestorben. Oh, was für eine noble Frau sie war!“ Trommelwirbel. Nächster Vers. Trommelwirbel... Die ganze Nacht hindurch haben Radschu und Weliyan schon getrommelt, Waradan hat gesungen. Nun brennt die Mittagssonne auf die hageren Männer in den verwaschenen Lendentüchern herab. Binnen eines Tages müssen alle Verwandten informiert sein; dafür sind die Trommler und Sänger zuständig.
Sie treten auch bei Hochzeiten in Aktion und wenn ein Mädchen zum ersten Mal ihre Menstruation hat - das sind schließlich wichtige Anlässe, die alle im Dorf mitbekommen sollen. Sie rufen die Männer zusammen, wenn in der Regenzeit das örtliche Wasserreservoir zu brechen droht oder wenn das gemeindeeigene Feuerholz versteigert werden soll. Für jeden Anlass gibt es einen eigenen Rhythmus und ein bestimmtes Instrument. Außerdem dürfen sie bei keinem Fest für die Dorfgötter fehlen. Momentan haben sie Hauptsaison: Noch bis Mitte August werden die machtvollen Muttergottheiten gefeiert. Nächtelang trägt Waradan ihre Legenden vor. Die Nachrichtenübermittler sind zugleich die Bewahrer der lokalen Geschichte.
Wenn sie niemand engagiert, verdingen sie sich als Tagelöhner auf den Reisfeldern. Radschu ist zudem der Totengräber des Dorfes und beseitigt auch Tierkadaver. Mit deren Leder bespannt er seine Trommeln. Mit dem Tod und allem, was dazugehört, brauchen sich die anderen Dorfbewohner ihre Hände nicht schmutzig zu machen. Sie stecken Radschus Leuten dafür ein paar Rupien zu - und halten ansonsten geflissentlich Abstand zu ihnen. Rund vier Fünftel der Dorfbewohner betreten keinesfalls die Straße, in der diese Leute wohnen. Sie würden niemals etwas essen, was deren Frauen gekocht haben und schon gar nicht die eigenen Kinder mit ihren verheiraten. In ihren Augen sind sie unberührbar. Das Dorf ist geteilt.
Offiziell hat die indische Verfassung die Unberührbarkeit abgeschafft. Deswegen ist es auch nicht politisch korrekt, das Wort überhaupt zu benutzen. Kämpferische Unberührbare nennen sich selbst „Dalits“, „Unterdrückte“. Sie wehren sich politisch und juristisch gegen ihre Benachteiligung, und manchmal auch gewaltsam. Andere Formen des Protestes sind leiser, aber langfristig womöglich umso tiefgreifender. Die beiden Söhne des Trommlers Welijan sind 20 und 22 Jahre alt. Manchmal haben sie Glück und finden einen Job beim Hausbau oder in Ziegeleien. Wenn nicht, sitzen sie zu Hause herum. Die Arbeit, die viele Generationen ihrer Vorväter verrichtet haben, machen sie jedenfalls nicht mehr. Sie wollen das Stigma nicht. Welijan ist der letzte Informationsexperte in diesem Sinn.
Wer mit dem Bus von Oragadam in das Städtchen Tirukkalukundram kommt, dem sticht am Halteplatz der Laden von Balu sofort ins Auge. Der Eingang ist mit sonnengelber Latexfarbe gestrichen. Das ist sein Kennzeichen. Es handelt sich um eine bemannte Telefonzelle. Unbemannte gibt es in Indien nicht. Die Kundschaft betritt das Gelass aus Beton, das kleiner ist als ein Omnibus, setzt sich auf einen der niedrigen Holzschemel und diktiert Balu die gewünschte Telefonnummer. Der wählt sie, und wenn er hört, dass die Leitung frei ist, putzt er rasch den Hörer an seiner Schulter ab und überreicht ihn dem Kunden. Natürlich hören alle im Laden mit. Es geht um Arztbesuche, die nächste Rate für den Sparverein, um eine neue Ladung für den Kokosnusshändler.
Gleich links am Eingang schnurrt eine schneeweiße Tiefkühltruhe. Sorgsam lüftet Balu ihre Haube, und faszinierend eisiger Dampf steigt in die Tropenluft auf. Eis am Stiel gibt es im Telefonladen auch. Eines kostet so viel wie die Trommler aus Oragadam pro Einsatz für die Gemeinde verdienen; der Preis eines Ferngespräches beträgt das Vielfache.
Eigentlich stamme er aus einer Familie von Handwebern, erzählt Balu, doch er sei der erste seit Generationen, der dieses kunstvolle Handwerk nicht mehr gelernt habe. Die Motorwebstühle und die Politik hätten den Beruf kaputt gemacht. Der Mitzwanziger ist froh, dass sein Vater genügend Geld für den Telefonladen zusammensparen konnte. Der Senior hat den typischen Herren-Wickelrock umgeschlungen, ein Produkt des eigenen Webstuhls. Sein Sohn trägt weite Polyesterhosen aus der Fabrik. Die sind so modern wie seine Ware.
Mit Eiscreme und Telefoneinheiten sei noch ein Geschäft möglich, meint Balu. 1996 hat im Ort der erste Fernsprechladen eröffnet. Davor musste man zum Telefonieren 15 Kilometer in die nächste Stadt fahren. Noch 1998 hatte er 50 Anrufe pro Tag, erinnert sich der Telefonmann. Bald stieg die Zahl auf mehrere hundert. Der Ortsnetzbereich sei ausgeweitet worden, das mache das Anrufen erschwinglich. Sogar Bauern kämen heute zum Telefonieren. Das Netz verkraftet das kaum. Zu bestimmten Zeiten kann es eine halbe Stunde und länger dauern, bis man eine Leitung ergattert, und häufig geht gar nichts. Wenn in der Regenzeit der Boden aufweicht, sind die Leitungen oft tagelang gestört. Ständig sind drei Arbeiter mit Grabstöcken unterwegs und ziehen neue Kabel. Aber trotzdem wählt sich gerade ein Kunde die Finger wund und bekommt nicht mal einen Anschluss nach Chennai, der Hauptstadt seines Bundeslandes. „Aber das macht nichts. Ich bin ja auch gekommen, um meinen Freund Balu zu treffen“, sagt er. Die Telefonläden sind die neuen Kommunikationsknotenpunkte im Ort, in jeder Hinsicht.
Über das Netz in die Welt: Ein Internet-Laden
Im Dorf ist es Utopie, in der Sechs-Millionen-Metropole Chennai längst Alltag: In jeder Geschäftsstraße gibt es Internet-Läden. So ein Geschäft ist auf das Nötigste reduziert - vier Computer mit Modems und Druckern, zwei Tische, ein paar Stühle, eine Kasse. Über allem wummert der Ventilator. Die meisten Kunden sind jung, tragen Hosen und trendy Turnschuhe, und sprechen kaum mehr ihre Muttersprache. Statt Tamilisch benutzen sie Englisch, das Idiom der alten Kolonialherren und zugleich das der großen, weiten Welt der Zukunft.
Einer entwirft ein Logo. Eine andere surft im World Wide Web für fünf Rupien pro Minute. Das ist zwar viel Geld, aber immer noch billiger, als sich selbst Computertechnik anzuschaffen. Die ist extrem teuer und dazu in dem feuchtheißen Klima sehr störungsanfällig. Ein älteres Ehepaar - sie im eleganten Sari mit viel Gold um den Hals - lässt sich vom Angestellten die E-Mails des Sohnes ausdrucken. Der arbeitet gerade in den USA.
Chennai, einst Madras, ist - neben Bangalore und Hyderabad - eine der IT-Hochburgen Indiens, mit vielen software-Firmen und Ausbildungszentren. Zwar lebt noch immer rund ein Drittel der Einwohnerschaft von Chennai in Slums. Die Wasserversorgung ist ein ungelöstes Problem, und viele Computer-Firmen kämpfen mit den häufigen Stromausfällen im überlasteten Netz. Doch für eine kleine, neue Mittelschicht hat die Zukunft bereits begonnen. Eine IT-Expertin in der Stadt verdient fast fünfzehnmal soviel wie eine Büroangestellte auf dem Land - bei gleichem Studienabschluss. Chennai ist allerdings für viele nur ein Zwischenstopp.
Body-Shopping und Continent-Hopping
„Body-Shopping“ nennt die Firma Imagineering ihre Dienstleistung. In ihrem Büro in einer palmenumsäumten Villa in Chennai wirbt sie Computerexperten an, bildet sie einige Monate lang aus und vermittelt sie in die USA, nach Australien, Kanada oder Großbritannien. Dort arbeiten sie als Angestellte von Imagineering bei verschiedensten Firmen der Software-Branche. Bevor ihr Wissen veraltet, holt das Unternehmen sie nach Indien zurück und verpasst ihnen einen „Update“. Nach dieser Weiterbildung werden sie wieder quer über die Kontinente versandt.
Die Firma kümmert sich um die Visa und stimmt die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in Kursen auf die fremde Kultur ein, etwa auf die Essgewohnheiten. Am schwarzen Brett des Chennaier Büros hängen ausschließlich Werbezettel von vegetarischen Garküchen. Praktisch kein Mitarbeiter und keine Mitarbeiterin isst Fleisch, viele noch nicht einmal Eier, Knoblauch oder Zwiebeln. „Das verändert den Charakter“, sagt Sudhakar, einer der Programmierer. Er gehört, wie mehr als die Hälfte seiner Kollegen von Imagineering, der Brahmanen-Kaste an. Die Briten hatten sich ihre typische Gelehrsamkeit für die Kolonialverwaltung zunutze gemacht. So sind viele Brahmanen an Schlüsselpositionen von Wirtschaft und Gesellschaft gelangt.
Seit die Regierung groß angelegte Quotenregelungen aufgelegt hat, um Mitglieder von „niederen“ Kasten in den Beamtenapparat zu hieven, weichen immer mehr Brahmanen in andere Bereiche aus. So haben sie sich den zukunftsweisenden IT-Sektor erschlossen. Ein krasserer Gegensatz zu den herkömmlichen Informationsvermittlern Indiens, den Trommlern und Sängern auf dem Land, ist kaum vorstellbar.
Dr. Bettina Weiz, Ethnologin, hat seit 1991 immer wieder Feldforschungen in Indien unternommen, zuletzt für ihre Promotion über “Water Reservoirs in South India. An anthropological approach". Außerdem arbeitet sie als Autorin und hat viele Preise für ihre Reportagen und Features gewonnen. Die sind meistens im Bayerischen Rundfunk zu hören.
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008