Von Ulrich Demmer
In den nördlichen Nilgiris, einem waldreichen Hochplateau im westlichen Südindien, stehen die Moderne, der Staat und die Stammeskulturen in spannungsreichen aber oftmals auch in kreativen Beziehungen zueinander. Die unterschiedlichsten Akteure sind an der dynamischen Entstehung einer lokalen oder „alternativen Modernität“ beteiligt, ein Begriff, den Charles Taylor 1999 geprägt hat.
Bis in die 40er-Jahre des letzten Jahrhunderts lebte im Waldgebiet der nördlichen Nilgiris hauptsächlich eine tribale Bevölkerung. Zu diesen Stammeskulturen oder „Adivasi“, gehörten und gehören noch immer Irula, Sholega, Betta- und Jenu Kurumba. In den 50er-Jahren wandelte der indische Staat große Waldgebiete in Staatsschutzwälder und vor allem auch Wildschutzgebiete um und baute ein Wasserkraftwerk. Heute fördert er auch den Tourismus, sowie ein als umweltgerecht konzipiertes Stromerzeugungsprojekt. Zusätzlich wurden vielfältige Schritte unternommen, um mit staatlichen Maßnahmen die tribale Bevölkerung in Bereichen wie Ökonomie, Bildung und Gesundheit zu modernisieren. Dies beinhaltet auch die Errichtung von „modernen“ Hüttensiedlungen, die Einrichtung mobiler Gesundheitsdienste, spezieller Stammesschulen und staatlicher Kooperativen (sogenannte LAMP-Societies), die den Ankauf von Waldprodukten regeln. Schließlich sind die tribalen Gruppen auch im Fokus einiger NGOs, die ihre eigenen Ideen von Modernität und Entwicklung bei ihnen voran treiben.
Der indische wie der tamilische Staat verfolgt so mit seiner Politik eine im wesentlichen „a-kulturelle“ Vision von Modernität, wie Charles Taylor es nennt. Diese Moderne ist im Prinzip nicht verhandelbar, weil sie als universal notwendige Entwicklung gedacht wird, die lediglich auf ihre jeweilige Entfaltung vor Ort und die „Einsicht“ der Betroffenen wartet. Sie beinhaltet ein vermeintlich wertneutrales Modell von Gesellschaft, bestehend aus einem der Autonomie, Individualität und Rationalität verpflichtetem Konzept der Person, einem säkularen Staatsmodell und der Ausgliederung von Spiritualität in die private Sphäre der Bürger. Diese Vision der Moderne wird von den politischen Parteien allerdings mit spezifisch kulturellen Elementen angereichert und zu einer besonderen tamilischen Form der lokalen Modernität umgeformt.
Der Staat und die regierenden Parteien versuchen mittels performativer politischer Inszenierungen ihren Vorstellungen von Modernität der Bevölkerung gegenüber eine hegemoniale Kraft zu verleihen. In den nördlichen Nilgiris gibt es nur selten größere Inszenierungen dieser Art. Im November 2005 jedoch konnte die Bevölkerung eine außerordentliche politische Performanz erleben. Zur Einweihung und Inbetriebnahme eines staatlich geförderten entwicklungspolitischen Prestigeobjekts hatten sich die Ministerpräsidentin Jayalalitha und eine Reihe anderer hochrangiger Regierungsmitglieder persönlich angesagt und dafür wurde eine komplexe Inszenierung des Ereignisses arrangiert. black cats“) und kritisierten ausdrücklich die enorme Distanz zur Regierungschefin, die dort in Szene gesetzt wurde. Andere zogen Parallelen zu den Auftritten des Militärs im Irak, die über Satellit die Fernsehgeräte der Dorfbevölkerung erreichte.
Das Szenario der Eröffnungszeremonie, welches streng abgeschirmt von der Bevölkerung stattfand, wurde auf eine mobile Großbildleinwand übertragen, stationiert auf einem als Arena angelegten, öffentlichen Platz. Zugleich waren rings um die Arena herum große Flachbildfernseher aufgestellt, die ebenfalls die Bilder übertrugen.
Diese Medienlandschaft diente, über das eigentliche Ereignis hinaus, zu einer weiteren Darstellung von Modernität. Nach Abschluss der Eröffnungsübertragung zeigten alle Bildschirme einen kurzen Spielfilm, der die Geschichte einer suburbanen tamilischen Kleinfamilie erzählte. Als zentrale Themen wurden der Wert der Kleinfamilie, des städtischen Lebens und der modernen Bildung dem wohl liebenswerten, aber leider nicht mehr zeitgemäßen, traditionellen Dorfleben gegenübergestellt. Besonderer Nachdruck wurde dabei auf die Figur der „Mutter“ gelegt, mittels filmisch montierter Doppelung wurde sie mit der Regierungschefin selbst identifiziert: Die tamilische Mutter und die politische Garantin der Modernität fielen so zusammen in eine Person: die der Regierungschefin.
Die Adivasi verstehen es in vielen Fällen, diese Entwicklungen für sich im positiven zu nutzen, sie sind in den seltensten Fällen passive „Opfer“. Sie antworten auf Erfahrungen von staatlicher Modernität aber auch mit politischen Strategien des alltäglichen und verdeckten Widerstandes, der von James Scott 1985 so genannten „Infrapolitik“. Zudem gibt es Formen des „kulturellen Widerstands“. Dazu gehören die religiösen Diskurse in Heilungs- und Totenritualen. Regelmäßig führen die Adivasi ausführliche Debatten mit ihren Verstorbenen und Ahnen-Gottheiten, die sich in Medien oder Schamanen verkörpern, über zentrale Fragen des sozialen Zusammenlebens: Über die Verantwortung für leidvolle Erfahrungen, über die Konzeption eines guten oder schlechten Lebens, die Idee von der Person als sozialem Individuum und über die Notwendigkeit, die Moral der Stammesgemeinschaft in Gesprächen mit den Gottheiten auszuhandeln. In diesen Ritualen werden Konzeptionen eines guten Lebens entwickelt und in Szene gesetzt, die ein Gegenmodell zur „a-kulturellen“ staatlichen Modernität darstellen. Allerdings handelt es sich hier um eine eher implizite Form der Kritik an Modernität und Staatlichkeit.
Im Unterschied dazu ist der Schrein von Sanesvara ein Forum für die explizite, sowohl kritische wie kreative Auseinandersetzung mit der Moderne. Die Gottheit Sanesvara wurde erst vor einigen Jahren (1996) von einem Stammespriester ( sholega ) aus dem Wald heraus gebracht. Seit dem ist der Schrein, unmittelbar zwischen Adivasi-Siedlungen und dem Dorf gelegen, im ständigen Ausbau begriffen und zieht eine stetig zunehmende Zahl von Klienten an. Der Priester dort geht weit über den Rahmen traditioneller Rituale hinaus und bezieht eine Reihe von neuen Elementen aus unterschiedlichen heterogenen Lebenswelten ein. Damit spricht er ein breites Publikum an: Adivasi, Dorfleute, Taxifahrer aus der engeren Region, hier stationierte Beamte aus Tamil Nadu, und sogar aus Delhi frequentieren Klienten der Gottheit den Schrein, um den Rat der Gottheit in leidvollen Lebenslagen oder bei größeren und eventuell riskanten Unternehmungen (Reise, neuer Job, Heirat und anderes) einzuholen.
Der Priester berücksichtigt bewusst die heutige Medienwirklichkeit Indiens. Er verfolgt intensiv die aktuellen, lokalen wie nationalen Ereignisse in den Zeitungen und im Fernsehen und übersetzt diese mediale Realität auf seine Weise zurück in die Semantik der Aufführungen am Schrein. Seinem Motto gemäß „My temple is my TV“, interpretiert er politische und aktuelle Ereignisse wie es auch die Nachrichtensprecher tun, allerdings spricht er darüber hinaus auch die Zukunft an, indem er etwa erläutert, wie durch richtiges Handeln der Klienten negative Entwicklungen vermieden werden können. Tatsächlich leitet sich nach lokalem Verständnis gerade durch diese Fähigkeit der Gottheit, das Leben positiv zu beeinflussen, ihre Macht ab, die den Medien, den politischen Parteien und auch der Regierung überlegen ist.
Als dritte kreative Neuerung schließlich wird die Moral, die in den Heilungs- und Totenritualen ja vorwiegend mit Bezug auf die Adivasi-Gemeinschaft diskutiert wird, ausgeweitet auf das Feld von Staatlichkeit und Modernität. Hier wird Kritik artikuliert, die sich vor allem gegen Institutionen wie die Forstverwaltung oder das Hospital und deren Personal richtet. So wird zum Beispiel die Unfähigkeit des Hospitalpersonals, das Leid der Patienten zu lindern oder die Willkür der Forstverwaltung, die die Adivasi aus dem Wald ausschließen und sie ihres Einkommens berauben, zur Sprache gebracht. In anderen Fällen wird auch die Korruption der örtlichen Polizisten und Ärzte, die offiziell ihre Dienste unentgeltlich anbieten müssen, thematisiert.
Schließlich beinhaltet Sanesvara sogar eine praktische Politik, denn die Gottheit interveniert nicht selten durch ihr Medium auch in Bezug auf staatliches Handeln. Die Gottheit erteilt den Beamten der Forstverwaltung oder der örtlichen Polizei durchaus ihre Befehle, droht diesen bei Nichtbefolgung mit Konsequenzen und ermahnt sie „die Kinder des Waldes“ (die Adivasi), die auch die Kinder der Gottheit sind, nicht zu vergessen und ihnen nicht zu schaden. In allen Fällen wird Kritik am Staat und seinen Modernitätsstrategien formuliert und immer unter Rückbezug auf die Adivasi-Konzeption von einer moralischen Gemeinschaft. Am Schrein von Sanesvara werden so moderne und traditionelle Elemente in kreativer aber auch in kritischer und politischer Weise zu einer spezifischen Form der lokalen Modernität verknüpft.
Comaroff, J.; J. Comaroff (Hg.) (1993): Modernity and its Malcontents: Ritual and Power in Postcolonial Africa. Chicago, London: University of Chicago Press
Demmer, U. (2006): Rhetorik, Poetik, Performanz: Das Ritual und seine Dynamik bei den Jenu Kurumba (Südindien). Mit interaktiver Multimedia CD-Rom. Münster, Berlin: LIT Verlag
Scott, J. (1985): Weapons of the Weak: Everyday Forms of Peasant Resistance. New Haven: Yale University Press Taylor, Ch. (1999): Two Theories of Modernity. Public Culture 11 (l): 153-174
PD Dr. Ulrich Demmer, Institut für Ethnologie und Afrikanistik, LMU-München. Seit 1988 mehrjährige Feldforschungen in Süd- und Mittelindien.
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008