Von Susanne Schröter
Was ist ein Mann und was eine Frau? Bezeichnen die Begriffe ein ideologisches Konstrukt, oder enthalten sie eine materielle Substanz? Gibt es überhaupt Männer und Frauen oder sind diese Termini nicht mehr als rhetorische Eckpfeiler eines patriarchalen Zwangssystems? Solche und andere Fragen werden seit Beginn der 90er-Jahre in der interdisziplinären Debatte um die Kategorie Geschlecht erörtert, die sich zunehmend auch einer komparativen Perspektive bedient, um herauszufinden, ob das, was in einer (unserer eigenen) Gesellschaft als natürlich empfunden wird, universale Gültigkeit beanspruchen kann.
Im Verlauf der Diskussion ist vieles in Bewegung geraten, und manche bislang tabuisierte Überschreitung von Geschlechternormen wurde sogar zum Kulturereignis. Dies gilt zum Beispiel für das erste deutsche Drag-King-Festival, das im Sommer 2002 in Berlin stattfand. Drag-Kings, die weiblichen Pendants zu den Drag-Queens, den Männern in Frauenrollen, feiern nicht nur auf der Bühne oder bei Workshops, in denen frau die Körpersprache eines Mannes erlernen kann, große Erfolge. Sie verkörpern, wie die maskuline Frau generell, ein Identitätsmodell, das sich zunehmender Attraktivität erfreut. Als „kesser Vater“ oder „Garconne“ war die männliche Frau schon in den 20er-Jahren eine Kultfigur der homosexuellen Subkultur, doch innerhalb der auf Egalität ausgerichteten Frauenbewegung der 70er- und 80er-Jahre wurde sie eher stigmatisiert. Seit einigen Jahren erlebt sie aber als „butch“ oder „Frau-zu-Mann-Transsexuelle“ eine Renaissance.
Dabei ist das Phänomen der maskulinen Frau auch ohne einen Verweis auf die „wilden 20er“ nicht neu. Frauen haben in der Geschichte wiederholt männliche Rollen und Identitäten für sich beansprucht und haben offen oder verborgen das Leben von Männern gelebt. Manche Insignien des Maskulinen waren nicht zu jeder Zeit und in jeder Gesellschaft biologischen Männern vorbehalten. So konnten Frauen in einigen Ländern Europas in der Vergangenheit das Waffenhandwerk erlernen und sich als aktive Kämpferinnen am Krieg beteiligen. Erst Ende des Mittelalters wurde der Beruf des Soldaten zu einem exklusiv männlichen – so jedenfalls schrieben es Gesetz und Sitte vor. Nicht jede Frau beugte sich jedoch ihrer Verbannung vom Schlachtfeld und dem Ausschluss von anderen männlichen Tätigkeitsbereichen. Manch eine verkleidete sich als Mann und konnte jahrelang unerkannt in dieser Geschlechtsrolle leben. Das belegen mehrere historische Untersuchungen, wie eine von Rudolf Dekker und Lotte van der Pol im Jahr 1989 publizierte Studie über einhundertneunzehn Fälle von weiblichem Geschlechtsrollenwechsel in den Niederlanden, in denen Frauen zwischen 1550 und 1839 als Matrosen oder Soldaten ihr Auskommen verdienten. Viele der Frauen waren so überzeugend maskulin, dass ihr biologisches Geschlecht erst nach ihrem Tod entdeckt wurde, andere wurden nach etlichen Jahren, die sie als geachtete Männer verbracht hatten, verraten und in Aufsehen erregenden Prozessen zu einer weiblichen Existenz verurteilt. Häufig geschah die Übernahme einer männlichen Rolle aus sozialer Not, um einem Leben als Prostituierte zu entgehen; doch muss auch der Statusgewinn verlockend gewesen sein. Der Beruf des Soldaten eignete sich dazu in besonderer Weise, da ihm eine gewisse Glorie anhaftete und er mit Werten wie Patriotismus, Freiheitsliebe und Tapferkeit assoziiert wurde. Zudem waren Soldaten der unbewaffneten Bevölkerung gegenüber im Besitz von Machtmitteln, die ein Gefühl von Überlegenheit hervorriefen.
Eine andere Tätigkeit, die einen Zuwachs an Prestige versprach, war die des Geistlichen. „Eine Frau war dieser Mann“, zitiert Andrea Liebers die Reaktion der Zeitgenossen, als nach dem Tod des Bruders Joseph im Zisterzienserkloster Schönau bei Heidelberg offenkundig wurde, dass der Mönch den Körper einer Frau besaß. Nicht immer sorgten solche Entdeckungen für einen Schock, und man war durchaus geneigt, einer Person, die stets einen „männlichen Geist“ an den Tag gelegt hatte, die weibliche Biologie zu verzeihen.
Auch in Gesellschaften außerhalb Europas besitzen Frauen die Möglichkeit, die ihnen zugewiesene Geschlechtsrolle zu wechseln oder zu überschreiten; in einigen wurden geschlechtliche Transgressionen sogar institutionalisiert. Dort, wo Männlichkeit maßgeblich mit kriegerischen Tugenden gleichgesetzt wurde, konnten Frauen ihren Geschlechtsstatus wechseln, indem sie „männlichen Mut“ bewiesen. Dies galt zum Beispiel für eine Anzahl indigener Gruppen Nordamerikas, insbesondere für die Stämme der Plains-Indianer, die ihre Kriegerinnen als manly-hearted women bezeichneten. Eine dieser Kämpferinnen war Woman Chief vom Volk der Gros Ventre, die als Kind von den Crow entführt wurde und bei ihnen aufwuchs. Woman Chief fiel schon als kleines Mädchen durch ihre „männlichen Eigenschaften“ und ihre Vorliebe für männliche Tätigkeiten auf. Ihr Ziehvater unterstützte sie in diesem Weg und unterwies sie im Umgang mit Waffen. Als ihre Siedlung von einer Gruppe Blackfoot überfallen wurde, stellte sie erstmals öffentlich unter Beweis, dass sie wie ein Mann kämpfen konnte: Sie verwundete zwei der Angreifer und tötete einen von ihnen. Seitdem galt sie als vollwertiger Krieger, führte Überfälle an, stahl Pferde und skalpierte ihre Gegner. Später heiratete sie mehrere Frauen, wurde in die Ratsversammlung der Männer aufgenommen und bekleidete den dritthöchsten Rang unter einhundertsechzig Häuptlingen.
Auch eine andere bekannt gewordene indianische Transsexuelle, die Piegan Running Eagle, zeigte schon als Kind ausschließlich Neigungen für männliche Aktivitäten. Sie kümmerte sich um die Pferde ihres Vaters und war eine aktive Jägerin. Bereits als Heranwachsende nahm sie an Überfällen teil, stahl Pferde der Nachbarethnien und tötete ihre Gegner. Da sie jegliche weibliche Tätigkeit ablehnte, ließ sie die Hausarbeit von einer anderen Frau verrichten. Running Eagle identifizierte sich selbst als Mann und nahm einen männlichen Namen an. Sie legitimierte ihren Geschlechtswechsel mit einer Vision, in der ihr die männlich symbolisierte Sonne erschienen war. Träume und Visionen spielten in indianischen Gesellschaften eine wichtige Rolle für die Interpretation der Gegenwart und die Projektierung der Zukunft. Dabei galt es vor allem, das Erscheinen von Gegenständen oder Geistwesen zu deuten, die geschlechtlich markiert waren. Träumte eine Frau von männlichen Dingen, so konnte sie daraus eine Berechtigung oder sogar eine Aufforderung ableiten, fortan als Mann zu leben.
Ein vollständiger Geschlechtswechsel, wie er von Chief Woman oder Running Eagle berichtet wird, kam allerdings recht selten vor. Häufiger waren temporäre oder partikuläre Überschreitungen der weiblichen Rolle von Frauen, die ihre Ehemänner, Brüder oder Väter begleiteten oder ein getötetes Familienmitglied rächen wollten. In diesem Kontext implizierte der Begriff manly-hearted keinen Verweis auf Transgender, sondern bedeutete lediglich eine besondere Auszeichnung für eine mutige Frau. Neben der Teilnahme am Krieg konnten Frauen durch die Partizipation an Ratsversammlungen männliches Prestige gewinnen, ein Vorrecht, das in erster Linie Frauen gewährt wurde, die von einflussreichen männlichen Verwandten protegiert wurden.
Ein anderes Beispiel stellt die Institution der tobelija , der „geschworenen Jungfrau“, in den Gesellschaften des südlichen Balkans dar. Anders als die indianischen Kriegerinnen wählen Frauen hier die männliche Existenzweise meist nicht aus Neigung. Vielmehr ist es das Pflichtgefühl, oft auch eine auferlegte Bürde, die sie zu einem Leben als tobelija bewegt. "Geschworene Jungfrauen" sollen, so will es die Sitte, fehlende Männer ersetzen. Die Zuständigkeiten der Geschlechter sind streng geregelt, als weiblich markierte Tätigkeiten können nicht von Männern und männlich identifizierte nicht von Frauen verrichtet werden. Beide Geschlechter sind daher für das Funktionieren eines Haushaltes notwendig, eines allein gilt nicht als überlebensfähig. Trotz dieser anerkannten Komplementarität gelten Männer und Frauen jedoch weder als gleich noch als gleichwertig. Das Verwandtschaftssystem ist patrilinear organisiert, Haus, Hof und Land werden von Männern an Männer vererbt, und nur Männer können eine Gruppe nach außen, in der Dorfgemeinschaft, vertreten. Wichtige Entscheidungen werden von Männern in männlicher Runde getroffen. Daher sind Frauenlosigkeit und Männerlosigkeit Probleme unterschiedlicher Gewichtung. Eine fehlende Frau kann leicht durch eine entfernte Verwandte ersetzt werden, da man von ihr nicht befürchten muss, dass sie die Männer des Hauses dominiert. Ein männerloser Haushalt hingegen gerät unter die tatsächliche Herrschaft des Mannes, der die vakante Position übernimmt. Das ist nicht immer erwünscht, besonders dann nicht, wenn die Beziehung zu Verwandten, die für eine solche Rolle infrage kommen, von Konflikten geprägt ist. Aus diesem Grund sucht man, wenn keine Söhne geboren werden oder die männlichen Nachfolger einen frühen Tod sterben, nach einem fiktiven Mann in Gestalt einer Tochter, die man als Junge erzieht und auf alle Aufgaben einer männlichen Führungsposition vorbereitet.
Zu den Qualitäten, die einen Mann ausmachen, zählen - dem lokalen Männerbild entsprechend - nicht nur handwerkliches Können und der Einsatz von Muskelkraft bei schweren Arbeiten, sondern auch ein dominantes Auftreten, die Bereitschaft, die eigene Ehre und die der Verwandtschaftsgruppe mit der Waffe zu verteidigen, und die Demonstration einer Reihe kleiner maskuliner Attribute wie Trinkfestigkeit und starkes Rauchen. Hierin gilt es sich zu beweisen, wenn man als tobelija Anerkennung finden will. Auch eine gewisse, zur Schau getragene Abwertung des Weiblichen erhöht die Glaubhaftigkeit, und es soll sogar ausgeprägte Mysogynisten unter den Jungfrauen gegeben haben. Einige wichtige Attribute der Männlichkeit bleiben ihnen jedoch versagt: Sexualität, Ehe und die Erzeugung von Nachkommen. Der Terminus der „geschworenen Jungfrau“ ist in dieser Hinsicht wörtlich zu nehmen: Das Mädchen legt einen Eid ab, dass es für immer Jungfrau sein wird. Trotz aller demonstrierten und zugeschriebenen Maskulinität ist die tobelija daher kein vollwertiger Mann mit allen männlichen Rechten. Sie nimmt eine zwischen den Geschlechtern stehende Sonderkategorie ein, der immer etwas Ambivalentes anhaftet und die von Statusunsicherheit geprägt ist.
Geschlechtsrollenwechsel im südlichen Balkan wurzelt in den sozialen Verhältnissen einer patrilinearen Verwandtschaftsstruktur und in einem patriarchalischen Menschenbild. So wird das Phänomen der tobelija jedenfalls sowohl im lokalen als auch im wissenschaftlichen Diskurs erklärt. Faktisch scheint die Existenz als Jungfrau jedoch auch eine Lösung für einige sehr persönliche Probleme zu sein.
Young nahm die Lebensgeschichten mehrerer tobelija auf, aus denen ersichtlich wurde, dass sie sich schon als Kinder mehr für Jungen- als für Mädchenspiele interessiert und Anschluss an die männliche Welt gesucht hatten, ohne dass es hierfür einen äußeren Anlass gegeben hätte. In einer Familie war eine Frau sogar tobelija und Haushaltsvorstand geworden, obwohl ein verheirateter Bruder im selben Haus lebte. Einige Jungfrauen konnten durch den Schwur einer ungewollten Ehe entgehen, und die Institution der „Blutsschwesternschaft“, in der sich tobelija zusammenschließen konnten, bot möglicherweise eine verdeckte Option für lesbische Gemeinschaft. Obwohl der Schwur als unumkehrbarer Schritt galt, soll es sogar vorgekommen sein, dass tobelija sich in Männer verliebten, sich von ihrer asketischen Lebensform verabschiedeten und heirateten. Die Idealform der zugewiesenen Rolle Ersatzmann, der sich ein Mädchen schicksalsergeben fügt, wird durch eine Praxis durchkreuzt, die sich sehr viel diffiziler gestaltet und eine neue Perspektive auf die Möglichkeiten weiblicher Subversion eröffnet.
Susanne Schröter (2002): FeMale. Über Grenzverläufe zwischen den Geschlechtern. Frankfurt: Fischer.
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PD Dr. Susanne Schröter, Ethnologin und Filmemacherin, Gast- und Vertretungsprofessuren an den Universitäten Mainz, Yale, Frankfurt und Trier; langjährige Forschungen in Indonesien; zahlreiche Publikationen im Bereich Gender Studies, Religion, Globalisierung, indigene Moderne und Ritualforschung.
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008