Von Dorothea E. Schulz
Das Erstarken von islamischen Gemeinschaften, die seit den späten 1970er-Jahren vielerorts die nationalstaatliche Kontrolle unterminieren und in denen Frauen eine sichtbare Rolle spielen, stellt die ethnologische Geschlechterforschung vor neue Herausforderungen. In Mali haben die Einführung einer Mehrparteiendemokratie und die Gewährung demokratischer Rechte seit 1991 dazu geführt, dass eine Vielzahl von Gruppen als Vertreter der Zivilgesellschaft in öffentlichen Debatten auftreten und ihre Meinung darüber kundtun, auf welche Vorstellungen das Gemeinwohl begründet sein sollte. Zu diesen Akteuren zählen muslimische Aktivisten, Intellektuelle und religiöse Würdenträger, die eine explizit islamische Position in öffentlichen Kontroversen zur Sozial- und Kulturpolitik der Regierung vertreten. Obwohl viele von ihnen behaupten, einen einheitlich islamischen Standpunkt einzunehmen, unterscheiden sie sich doch in Hinblick auf ihre politischen Ziele, Forderungen und Formen der Intervention.
Ein auffälliges und neues Merkmal des gegenwärtigen muslimischen Aktivismus ist, dass er ein merklich "weibliches Gesicht“ hat. Immer mehr Frauen organisieren sich in Gruppen, um gemeinsam an der islamisch-moralischen Erneuerung der Gesellschaft zu arbeiten. Die Sprecherinnen dieser Gruppen weisen Frauen eine zentrale Rolle innerhalb der breiteren islamischen Erneuerungsbewegung zu, wobei sie - scheinbar paradox - öffentlich ihrer Überzeugung Ausdruck verleihen, dass der angemessene Platz einer Frau vor allem in der Familie sei. Zentral für ihr Selbstverständnis ist ihre Identität und Überzeugung als praktizierende Musliminnen, und diese Praxis mit ihren religiösen Aktivitäten, die als "ethisch angemessen" gelten, verlagern sie in den öffentlichen Raum. Sie tragen damit zur Verbreitung einer nachdrücklich konservativen Geschlechterideologie bei, die sich auf den authentischen Islam als Grundlage beruft. Die Mitglieder dieser Frauengruppen nennen sich schlicht "Muslimische Frauen" ( silame musow in Bamanakan, der Lingua Franka des südlichen Mali) und grenzen sich damit von "anderen Frauen" ( musow to ) ab, die ihrer Meinung nach keine richtigen Muslime sind - was sich insbesondere darin äußert, dass Letztere sich (noch) nicht dazu entschieden haben, "den Schleier anzulegen" ( ka musòrò ta ). Die "muslimischen Frauen" betonen ihr gemeinschaftliches Anliegen einer moralischen Erneuerung und weisen darauf hin, dass gerade die Einmütigkeit ihrer Ziele dem egalitären Charakter der islamischen Glaubensbotschaft entspreche, demzufolge alle Gläubigen gleich seien vor Gott. Ähnlich wie die männlichen Aktivisten greifen auch die "muslimischen Frauen" auf eine internationale Rhetorik zurück, welche Demokratisierung zum Heilmittel gegen die Willkürherrschaft korrupter politischer Eliten im postkolonialen Afrika erklärt.
Die neue öffentliche Präsenz der muslimischen Aktivistinnen und die Art ihrer sozialen und ethischen Forderungen stellen in- und ausländische Beobachter vor analytisch-interpretatorische Schwierigkeiten. Auf der einen Seite tragen Musliminnen mit ihren Aktivitäten eindeutig zu einer lebendigen und von kontroversen Positionen gekennzeichneten malischen Zivilgesellschaft bei. Auf der anderen Seite vertreten sie Werte, die nicht als progressiv im Sinne der klassischen westlichen liberalen Politiktradition gelten können; auch ihre Organisationsformen stimmen nicht mit gängigen Vorstellungen überein, wie zivilgesellschaftliche Strukturen organisiert sein sollten. Eine Folge dieser Diskrepanz ist es, dass Vertreter der gegenwärtigen Regierung und viele säkular orientierte Intellektuelle den muslimischen Aktivisten, Männern und Frauen, das Recht absprechen, als Vertreter der Zivilgesellschaft in öffentlichen Debatten aufzutreten.
Für Forscher, die aus westlich-feministischer Perspektive auf die muslimischen Aktivistinnen und ihre Forderungen blicken, ergibt sich ein ähnliches Dilemma. Die Aktivistinnen der islamisch-moralischen Erneuerungsbewegung im städtischen Mali beanspruchen für sich eine aktive Rolle in der Ausformulierung von Zielen und Inhalten der Bewegung. Ihre öffentliche Präsenz könnte im westlich-progressiven Sinne als ein Anzeichen für das "empowerment" dieser Frauen gedeutet werden. Gleichzeitig sind aber die Leitvorstellungen, die sie formulieren, mitnichten emanzipatorisch im westlich-feministischen Sinne: Die "muslimischen Frauen" betonen gerade, dass die Unterwerfung unter den Willen des Ehemannes ein erstrebenswertes Ziel sei und eine ethische Qualität, die täglich eingeübt werden müsse. Sie berufen sich auf ihre Rolle als Mütter und Ehefrauen, um sich als Leitstern der gesellschaftlichen Erneuerung darzustellen. Westliche Interpretations-Schemata, die das Augenmerk auf die Verhältnisse und Machthierarchien zwischen den Geschlechtern legen, greifen zu kurz, um diese scheinbar widersprüchlichen Entwicklungen erklären können.
Es erscheint sinnvoller, die verstärkte Präsenz von Frauen in islamischen Erneuerungsbewegungen vor dem Hintergrund der Prozesse zu analysieren, die neue gesellschaftspolitische Entwicklungen sowohl in Afrika als auch in anderen Ländern der islamischen Welt charakterisieren. Dazu gehört vor allem die Veränderung von traditionellen Geschlechterrollen im urbanen Bereich. Durch die Folgen der neoliberalen Wirtschaftspolitik Malis mussten viele Frauen der städtischen Mittel- und Unterschichten eine größere, wenn nicht die ausschließliche Verantwortung für das materielle Überleben der Familie übernehmen. Dadurch werden männliche Verantwortung und weibliche Unterordnung in Bezug auf die Familie zunehmend in Frage gestellt und führen zu Konflikten und Aushandlungsprozessen. Zum anderen machen neue Formen und Institutionen der globalen Vernetzung es möglich, identitätsstiftende Diskurse und Gruppierungen zu schaffen, die über nationalstaatliche Grenzen hinaus reichen. Diese Gruppen profitieren sowohl von Verbindungen mit staatlichen Institutionen und Akteuren, können aber auch eine Gefolgschaft außerhalb des staatlichen Kontrollbereichs mobilisieren. Eine weitere Entwicklung der vergangenen fünfzehn Jahre ist, dass in vielen Ländern der postkolonialen Welt Konflikte um ökonomische und politische Ressourcen zunehmend in der Form von Identitätspolitik – sei sie religiös oder ethnisch legitimiert - ausgetragen werden. Zudem gewinnen die neuen Medien zunehmend an Bedeutung im Alltag. Medienkonsum wird zu einer Alltagsbeschäftigung und erweckt bei den Konsumenten den Eindruck, aufgrund der Informationen sich eine eigene Meinung bilden zu können (und zu müssen) und damit an Auseinandersetzungen über Fragen des Allgemeinwohls teilnehmen zu müssen.
Die Gruppen, in denen sich die "muslimischen Frauen" regelmäßig treffen, ähneln konventionellen weiblichen Organisationsformen dahingehend, dass sie eine Vielfalt von sozialen, wirtschaftlichen und religiösen Aktivitäten bündeln. Darüber hinaus bieten die Gruppen ihren Mitgliedern einen sozialen Schutzraum, der für viele Frauen gerade deshalb so wichtig ist, weil sie sich - infolge ihrer oft prekären wirtschaftlichen und sozialen Situation - starken emotionalen Zwängen ausgesetzt fühlen. Viele Bewohner und Bewohnerinnen der Stadt bringen dieser Art von weiblichem Zusammenschluss mehr Vertrauen entgegen als beispielsweise den so genannten Sparvereinigungen, die seit den 1980er-Jahren von Frauen zum Zwecke der gegenseitigen finanziellen Unterstützung gegründet wurden. Sie sind jedoch inzwischen in Verruf geraten, da Mitglieder oft die Erfahrung von Misswirtschaft und illegaler Aneignung der finanziellen Ressourcen durch die présidente oder die Kassenwärtin gemacht haben. Die Schaffung von zusätzlichem Einkommen wird oft nur als ein "Nebenprodukt" gesehen, da die als karitativ dargestellten Aktivitäten nicht formal bezahlt werden, sondern durch ein "Almosen" ( saraka ) entgolten werden.
Die „muslimischen Frauengruppen“ stellen den moralischen Gegenpart zu diesen Gruppen dar. Sie finden in anderen Gruppenmitgliedern eine Unterstützung bei Konflikten innerhalb ihrer Familien, die sich oft an finanziellen Fragen entzünden und die letzten Endes die Neuverhandlung von geschlechtsspezifischen Verantwortungsbereichen widerspiegeln. Die Aktivitäten und Ziele der "muslimischen Frauen" nehmen auch heute wieder Bezug auf muslimische intellektuelle Trends, insbesondere aus Ägypten und Saudi-Arabien, und setzen diese in lokale reformistische Tendenzen um. Bereits in den 1940er-Jahren hatte eine Generation von Aktivistinnen, orientiert an arabischen Reformbewegungen, eine neue Art von reformiertem Unterricht eingeführt. Dadurch war der Zugang zu islamischer Bildung erweitert worden, mit der Folge, dass die Legitimationsbasis von traditioneller religiöser Autorität geschwächt wurde.
Kennzeichnend für die heutige globale Vernetzung ist es aber, dass diese eine stärkere Beteiligung von Frauen ermöglicht. Zum Beispiel war früher der Zugang zu religiösem Wissen stark reglementiert. Durch die mediale Vernetzung werden heute religiöse Inhalte vermehrt auch Frauen zugänglich gemacht. Doch trotz der Versuche vieler "muslimischer Frauen", sich im Verlauf der regelmäßigen Gruppentreffen ein Wissen über rituelle Vorschriften anzueignen und Arabisch lesen und schreiben zu lernen, bleiben ihre Kenntnisse der "Regeln des Islam" zumeist sehr begrenzt. Dies gilt auch für die meisten Führerinnen und Sprecherinnen der Gruppen, die nicht eigenständig die schriftlichen Quellen des Islam interpretieren, sondern ihr Wissen aus dem Unterricht durch Männer beziehen. Gleichzeitig sind aber einige der Anführerinnen, aufgrund ihrer privilegierten gesellschaftlichen Stellung und dank der Handelskontakte, die sie (oder enge männliche Verwandte) mit Ländern der arabischen Welt unterhalten, in der Lage, sich eine eigene Meinung über "Rechte und Pflichten der Frau im Islam" zu bilden.
Viele der Anführerinnen bekleideten einst einflussreiche Posten in der Administration des Präsidenten Moussa Traoré, der das Land bis 1991 mit straffer Hand in Form einer Einparteiendiktatur regierte. Auch wenn sie unter den demokratischen Regierungen von Präsident Konaré und seinem Nachfolger Toumani Touré (seit 2002) von formalen Ämtern weitgehend ausgeschlossen geblieben sind, so kann ihr neues gesellschaftspolitisches Engagement vielfach als ein Versuch gewertet werden, weiterhin auf informeller Ebene auf gesellschaftspolitische Entwicklungen Einfluss zu nehmen. Durch den Aufbau von Patronagenbeziehungen zu Vertretern der gegenwärtigen politischen Elite „klinken“ sie sich in die gegenwärtige Umverteilung von politischen und ökonomischen Ressourcen ein. In den Netzwerken der "muslimischen Frauen" werden damit aber ökonomische und soziale Ungleichheiten verstärkt, die zwischen den Anführerinnen der Bewegung und der Masse der Teilnehmerinnen bestehen.
Einige Anführerinnen halten selbst Predigten, die über Lokalradios ausgestrahlt und als Audio-Kassetten verkauft werden. Von den Mitgliedern der Frauengruppen werden diese Medienbotschaften als eine Möglichkeit gesehen, sich Zugang zu religiösen Inhalten zu verschaffen und sich eine Meinung zu bilden, die möglicherweise von derjenigen der männlichen Familienmitglieder abweicht (durch die Frauen und Mädchen bisher ihr rudimentäres religiöses Wissen erhalten hatten). Auch hier finden also gegenwärtige Veränderungen in den Geschlechterverhältnissen ihren Niederschlag.
Die Predigten stellen die individuelle moralische Veränderung als einen "Eckpfeiler" der Erneuerungsbewegung dar und erklären weibliche Tugendhaftigkeit und Frömmigkeit zum zentralen Ziel. In jeder Situation angemessenes rituelles und Alltagsverhalten sollen deutlich machen, dass die innere Einstellung auf die Vorschriften und den Willen Gottes hin orientiert ist. Religiosität soll sich nicht nur im Akt der Gottesverehrung (insbesondere der Verrichtung der 5 täglichen Gebete) zeigen, sondern in einer Reihe von Taten, die von gleichermaßen sozialer und religiöser Natur sind. Die persönliche Veränderung soll herbeigeführt werden durch das gleichzeitige Erlernen bestimmter kognitiver und emotionaler Muster sowie durch das Einstudieren spezifischer körperlicher Techniken.
Die Bedeutung, die muslimische Aktivistinnen der Eigenverantwortung des Individuums geben, geht somit darüber hinaus, was konventionell als Charakteristikum einer muslimischen Glaubenspraxis gilt: Statt der akkuraten Verrichtung von rituell vorgeschriebenen Tätigkeiten betonen die "Muslimischen Frauen" die Kultivierung bestimmter geistiger und emotionaler Eigenheiten, so etwa Schamhaftigkeit, Bescheidenheit und Duldsamkeit. Auch die Wahl eines islamischen Kleidungsstils kann als eine Aktivität angesehen werden, die auf den Erwerb und Ausdruck von religiöser Tugend zielt. "Muslimische Frauen" weisen ihrer Kleidung, insbesondere dem Akt des "Verschleierns", eine zentrale Bedeutung zu und greifen damit auf ein globales symbolisches Repertoire zurück, dessen sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt muslimische Aktivisten, Männer und Frauen, bedienen, um ihre Hinwendung zu "islamischen" Grundwerten der gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung zu manifestieren.
Dass die Anführerinnen der individuellen Verantwortung einer Gläubigen eine zentrale Bedeutung zuweisen, ist nicht nur auf intellektuelle Einflüsse aus der arabischsprachigen Welt zurückzuführen. Sie verweist auf einen allgemeinen Trend der Veränderung der Bedeutung von Religion im urbanen Kontext: Während Islam zuvor ein Merkmal von Gruppenzugehörigkeit darstellte, wird er nunmehr zu einer individuellen Überzeugung, die vor einer breiteren Öffentlichkeit verteidigt werden soll.
Obwohl also weibliche (ebenso wie viele männliche) Vertreter der islamisch-moralischen Erneuerungsbewegung in Mali für die Rückkehr zu einer früheren Gesellschaftsordnung und zu "authentisch islamischen" Werten eintreten, so zeigen ihre Predigten und Formen der gesellschaftlichen Intervention, dass sie auf aktuelle soziale und normative Veränderungen reagieren und diese in die "islamische" Werteordnung aufnehmen. Ebenso zeigen ihre Forderungen, dass sie von Vorstellungen von Eigenverantwortlichkeit und von relevantem Wissen beeinflusst sind, die durch westliche Bildungsinstitutionen vermittelt worden sind. Das Erstarken von islamischen diskursiven Praktiken weist also mitnichten auf die "Rückständigkeit" der Träger dieser Bewegung oder auf eine "Re-Traditionalisierung" hin, sondern darauf, dass sich die "muslimischen Frauen", ebenso wie andere Mitglieder der malischen Bevölkerung, mit den Folgen von gegenwärtigen Prozessen der globalen Verflechtung und der Aufweichung von konventionellen Strukturen der sozialen Sicherung auseinander setzen sowie mit den ethischen Dilemmata, die sich aus diesen Veränderungen ergeben.
Dorothea E. Schulz: "God is our Resort." Islamic revivalism, mass-mediated religiosity and the moral negotiation of gender relations in urban Mali. Inst. für Ethnologie, Freie Universität Berlin. Berlin 2004.
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008