Von Ulrike Krasberg
Wenn man in Frankfurt/M Marokkanerinnen oder Marokkaner auf der Straße trifft – erkennbar an Dschellaba und Kopftuch bei den Frauen, die Männer tragen Fes – dann sind es höchstwahrscheinlich Marokkaner aus Nador. 90% aller Marokkaner in Frankfurt/M kommen aus Nador.
Nador ist eine Stadt von etwa hunderttausend Einwohnern, gelegen unmittelbar am Mittelmeer im Norden Marokkos, im Süden eingerahmt von Ausläufern des Rif-Gebirges. Bis 1956 war die nördlichste Provinz Marokkos spanisches Protektorat und das heutige Nador spanische Verwaltungshauptstadt. Als Marokko unabhängig wurde und die Spanier (und Franzosen in anderen Landesteilen) abzogen, ließ der damalige marokkanische König Hassan II Nador zur marokkanischen Verwaltungshauptstadt für die nördliche Provinz ausbauen und schickte Tausende von arabischen Verwaltungsbeamten und ihre Familien nach Nador.
Der Nord-Osten Marokkos ist traditionelles Berbergebiet, genauer das Siedlungsgebiet des Stammesverbandes der Thamazigth sprechenden Iqar’ayen. Im Gegensatz zu den ausschließlich die Städte bewohnenden marokkanischen Arabern sind die Berber Landbewohner. Auch heute noch - organisiert in Großfamilien und Clans – leben sie in Einzelgehöften auf ihrem Weide- und Ackerland. Die Iqar’ayen sind wie alle anderen Stämme segmentär organisiert. Das meint, ihre Gesellschaftsstruktur ist nicht hierarchisch wie eine Pyramide, sondern basiert auf dem Prinzip der Gleichartigkeit. Jeder Stamm ist eine Einheit. Wenn verschiedene Stämme miteinander in Kontakt kommen, so treffen sich die jeweils gleichen Gruppen von der kleinsten Gruppe, der Familie, bis zur größten, dem Stamm. Auf diesen Ebenen werden auch auftretende Konflikte geregelt. In dieser segmentären Struktur werden die Gruppen auch durch Bedrohung von außen zusammengehalten. Sei sie real oder empfunden, der andere Stamm als Bedrohung von außen hält die eigene Gruppe zusammen.
Nador gilt heute als eine der reichsten – wenn nicht die reichste – Stadt Marokkos. Und das kam so: Lange Zeit waren die Iquar’ayen an der Stadt Nador nicht sonderlich interessiert. Sie lebten auf dem Land vornehmlich von Viehzucht und Ackerbau. In Jahren der Dürre, die immer wieder vorkamen, gingen die Männer der Familien als Arbeitsmigranten in die größeren Städte Algeriens. Als ab den 1960er Jahren Europa Arbeitskräfte suchte, gingen viele Berber aus der nördlichen Provinz nach Europa. Und da die Löhne in Europa um vieles höher waren als in Algerien, blieben sie. Sie schickten ihr gespartes Geld nach Hause, und davon kauften sich die ländlichen Großfamilien Grundstücke in Nador und bauten darauf Häuser für die ganze Familie. Schließlich übersiedelten alle nach Nador. Nador und die Bauwirtschaft boomten und boomen immer noch, und dementsprechend sind die Grundstückspreise, Handwerkerlöhne und Lebenshaltungskosten gestiegen. Die Migrantenfamilien können die hohen Preise bezahlen, denn sie verdienen ihr Geld in Europa.
Das Leben auf dem Lande um Nador herum ist nach wie vor sehr mühsam. Es gibt keinen elektrischen Strom, Wasser wird vom Brunnen geholt, ärztliche Versorgung und Schulen sind rar (die Analphabetenrate auf dem Land ist sehr hoch). So verlassen viele Kernfamilien den Familienclan um in Nador zu leben. Sie bewohnen die Armenviertel am Rande der Stadt, wo es auch keinen Strom und fließendes Wasser gibt, aber die Frauen finden in Nador eine Arbeit als Hausangestellte in den reicheren und reichen Migrantenfamilien und können damit die Familie ernähren.
Wer keine Arbeit als Hausangestellte findet versucht es mit dem Schmuggel. Die spanische Enklave Melilla mit dem kleinen Grenzort Beni Ansar liegt nur etwa 13 Kilometer von Nador entfernt Das bedeutet für Nador, dass die Stadt im Grenzbereich zwischen Afrika und Europa liegt. Einwohner Nadors dürfen mit ihrem Personalausweis jederzeit die Grenze passieren. Das nutzen arme Frauen, um täglich in Melilla europäische Waren zu kaufen und unter ihrer Dschellaba nach Nador zu schmuggeln. Viele dieser Frauen haben sich zu diesem Zweck zeltähnliche, riesige Dschellabas genäht, die die Waren verdecken, die sie mit Hilfe von Klebebändern auf ihren Körper gebunden haben. Die Zöllner halten sich an der Grenze mit Kontrollen zurück, erst auf der Landstrasse nach Nador treten sie auf und nehmen den Frauen einen Teil ihrer Waren wieder weg, aber nie so viel, dass der Schmuggel der Frauen ernsthaft gefährdet wäre. Die Frauen bringen ihre Waren – oder was davon übrig geblieben ist – auf schnellstem Wege zu Fuß nach Nador in den suq Ouled Mimoun, bekannt als Schmuggler-suq, wo sie von den auftraggebenden Händlern schon erwartet werden.
Auch Männer schmuggeln, aber in gewisser Weise auf höherem Niveau. Dank ihnen kann man in Nador Autos, Waschmaschinen, Fernseher, kurz alle Konsumgüter der westlichen Welt kaufen und oft billiger als dort. Viele dieser Schmuggler sind durchaus wohlhabend und besitzen große Häuser in Nador.
Dieser Schmuggel dient einerseits dem Lebensunterhalt, anderseits ist er auch ein subversiver Akt gegen Marokko bzw. gegen die arabischen Verwaltungsbeamten in Nador. Zwar waren die Spanier lange Zeit die missgeliebten Herren in Nord-Marokko, aber heute werden sie von vielen dem marokkanischen König als Oberhaupt vorgezogen. In der Berberstadt Al Hoceima gab es vor einigen Jahren Demonstrationen gegen König Hassan II, in dessen Verlauf Demonstranten ihre Pässe auf die Strasse warfen und damit zum Ausdruck brachten, dass sie, statt zu Marokko, lieber zu Spanien gehören wollten. Umgekehrt scheint auch der König die Berber Nord-Marokkos nicht besonders zu lieben. Er knausert mit Geldern für die Infrastruktur der nördlichen Provinz, weil er – so sagt man in Nador – der Ansicht ist, Migranten aus Nador würden genug Geld verdienen, um ihre Kanalisation oder Schulen selbst zu bezahlen.
Grob gerechnet hat Nador ein Viertel arabische Beamte und Angestellte, ein Viertel berberische Migranten, die andere Hälfte besteht aus Handwerkern Händlern, Schmugglern und Hausangestellten, ebenfalls Berbern. Die berberischen Stadtbewohner – die älteren sind noch auf dem Land großgeworden – schätzen am Stadtleben nur die Bequemlichkeit der Häuser, sie halten - so weit es geht - am traditionellen Lebensstil, wie er auf dem Land noch herrscht, fest. Das heißt Nador als Stadt könnte man als konservativ bezeichnen. Das ließe sich zum Beispiel an der Urbanität Nadors festmachen. Die Stadt scheint wenig Wert auf Straßen und öffentliche Plätze zu legen, zumindest außerhalb des Stadtzentrums. In den neu erbauten Wohnquartieren sind die Straßen nicht befestigt. Im Sommer bewegen sich die Fußgänger durch Staubwolken, wenn es regnet versinken sie im Morast. Und Sommer wie Winter türmt sich der Müll in den Straßen.
Nur die ärmeren Frauen bewegen sich in diesen Straßen, das Leben der Migrantenfrauen spielt sich in den Häusern und auf den Dachterrassen ab. In den reicheren Familien ist es nicht gern gesehen, wenn Frauen das Haus verlassen (Einkaufen ist Männersache). Das kontrollieren auch die Ehemänner, die in Europa arbeiten. Unregelmäßige Telfonanrufe zu Hause geben Gewissheit, wo die Frauen sich aufhalten. Aber auch die Frauen selbst achten auf das Einhalten von traditionellen Regeln. Das wird zum Beispiel sichtbar an sehr traditionellen Bekleidungsregeln. Die Dschellaba bis zu den Knöcheln und Kopftuch sind Pflicht. In manchen Häusern werden die Frauen in den oberen Etagen durch spiegelnde Fensterscheiben vor den Blicken vorbeigehender Männer geschützt.
Die Innenausstattung der Häuser ist orientiert an arabischen Stadthäusern, dazu kommen alle Konsumgüter, die das Leben in Europa charakterisieren. Satellitenschüsseln ermöglichen es europäische Fernsehsender zu empfangen. Da das marokkanische Fernsehen überwiegend in arabischer Sprache sendet - und Berber, die nicht zur Schule gegangen sind, können auch kein Arabisch - ziehen es viele Migrantenfamilien vor, Sender der europäischen Länder zu sehen, in denen die Männer arbeiten und auch die Frauen oft zu Besuch sind.
Die Stadt Nador ist für die wenigsten ihrer Einwohner eine Heimatstadt. Die arabischen Verwaltungsbeamten empfinden Nador als Berberstadt und orientieren sich an den arabischen Städten, aus denen sie ursprünglich kommen. Für die berberischen Einwohner ist das Land, von dem sie kommen, Heimat und oftmals in ganz romantischem Sinne (unter berberischen Jugendlichen gilt es zum Beispiel als schick, alte Thamazigth-Ausdrücke zu verwenden). Ihren Lebensunterhalt dagegen bietet ihnen Europa, das Land, in dem sie arbeiten. Migranten in Nador sind weder national noch geographisch gebunden, ihr Lebenszusammenhang ist die Großfamilie. Und jede Großfamilie lebt ihre eigene Mischung aus verschiedenen Lebensstilen und Traditionen. Sie sind sozusagen unabhängig von nationalen Lebensstilen der Orte, an denen sie leben. So kann die Tochter oder der Sohn einer Migrantenfamilie aus Nador in Frankfurt/M studieren, hat vielleicht sogar einen deutschen Pass, heiratet in Nador, den für sie nach endogam-muslimischen Regeln vorgesehenen Cousin oder Cousine, baut sich vielleicht ein Haus auf dem Lande (auf dem Landbesitz des Familienclans) und lebt ansonsten in Frankfurt/M, verbunden mit der Familie über Telefon, e-mail, und Videos von Familienfesten.
Inwieweit dieser transnationale Lebensstil sich weiter entwickelt oder doch irgendwann eine Entscheidung für Nador/Marokko oder Frankfurt/M/Deutschland getroffen wird, bleibt abzuwarten.
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008