Von Hauke Dorsch
„Es ist mein Heim, hier fühle ich mich zuhause!“
Diese Aussage, die Lamin Ceesay (Name geändert) aus Westafrika im Interview mir gegenüber tätigte, bezog sich nicht etwa auf seine Herkunftsstadt in Gambia, noch auf seine Wohnung in Hamburg, sondern auf eine zu einem Konzertsaal umgebaute Fabrik in Hamburg-Altona. Sicherlich war diese Aussage auch der noch frischen Erinnerung eines gerade beendeten Konzertes zu verdanken, wurde doch soeben seine Familie von einem Popmusiker, der zugleich ein Griot, also traditioneller Preissänger war, besungen. Gleichwohl haben viele meiner Interviewpartner sich in ähnlicher Weise zu der Bedeutung geäußert, die Konzerte westafrikanischer Popmusiker für sie haben.
Derartige Aussagen verweisen auf Räume, die von Menschen mit Migrationshintergrund zumindest temporär angeeignet werden, die einen eigenen öffentlichen Raum bedeuten. Sie ermöglichen aber auch kulturellen und natürlich persönlichen Austausch von Menschen deutscher und westafrikanischer Herkunft. Eine Frage nach derartigen Räumen rückt die positiven Erfahrungen von Migrantinnen und Migranten in Deutschland in den Vordergrund. Hierbei soll es weniger darum gehen, eine harmonisierende Darstellung dieser Erfahrungen zu zeichnen, als vielmehr der Darstellung von Migration in den Medien aber auch in vielen wissenschaftlichen Arbeiten eine andere Perspektive entgegenzusetzen. Der vorherrschende Diskurs – mit dem, wie Hamburg zeigt, immer noch Politik gemacht werden kann – versteht Migration stets als Problem: da integrieren sich Türken nicht, so wie sich’s gehört, da müssen Ausländer für den Verfall von Stadtteilen herhalten, da werden die Ergebnisse von Pisa-Studien auf diejenigen Schüler und Schülerinnen reduziert, die nicht ausreichend Deutsch sprechen, da wird der Islam mit Fundamentalismus und Terrorismus gleichgesetzt etc. Dieses Bild prägt offenbar immer noch die öffentliche Wahrnehmung, trotz der seit den 1980ern andauernden Multikulturalismusdebatte, die die Bereicherung betonte, die Migration für die aufnehmenden Gesellschaften bedeutet. Zurecht wurde aber auch kritisiert, dass diese Wahrnehmung der Bereicherung sich meist auf gastronomische Errungenschaften, jüngst auf Informatikkenntnisse und den dringenden Ausgleich des sogenannten demographischen Faktors beschränkt, und vor allem, dass Migrantinnen und Migranten auf die Rolle exotisierter Anderer reduziert würden.
Sicher nicht zufällig sind es besonders Beiträge von Wissenschaftlerinnen, Wissenschaftlern und Intellektuellen mit Migrationshintergrund, die auf diese Problematik hinwiesen und eine differenzierte Betrachtung der sich im Rahmen von Globalisierung und Transmigration und dem postkolonialen Moment verwandelnden Kollektividentitäten in die Diskussion brachten. Besonders die Beiträge von Homi Bhabha sind hier zu erwähnen, der ausgehend vom komplexen Verhältnis von Kolonisator und Kolonisiertem den Begriff der Hybridität entwickelt, der auf die Überwindung simplifizierender Dichotomien von Wir-Andere abzielt und kulturelle Mischungen positiv bewertet. Migrantinnen und Migranten kommt aufgrund ihrer breiteren kulturellen Erfahrungen eine privilegierte Perspektive zu. Besonders schwarze britische Wissenschaftler machten ihre biographischen Erfahrungen bewusst zur Grundlage einer erneuten Diskussion der in der öffentlichen Wahrnehmung marginalisierten historischen Erfahrungen von Afrikanerinnen und Afrikanern vom Kontinent und aus der Diaspora. Im Umfeld der sogenannten ‚Black British Cultural Studies’ wurde so auch der Begriff der afrikanischen Diaspora unter neuem Vorzeichen verstärkt diskutiert.
Zunächst für hellenische Händler verwandt, dann als Beschreibung für die Zerstreuung der Juden gebraucht, bezeichnet Diaspora eine Gruppe von Menschen, die in verschiedenen Nationen außerhalb ihres Herkunftslandes leben, ein Bewusstsein für ihre gemeinsame kollektive Identität mit Bezug auf dieses Heimatland bewahren. Häufig, aber nicht immer, sind mit diesem Begriff Assoziationen von Verfolgung, Exil und Unterdrückung, schließlich ein Rückkehrwunsch verknüpft. Der Begriff der afrikanischen Diaspora verweist auf die Vorstellung einer gemeinsamen kollektiven Identität von Personen afrikanischer Herkunft in den Amerikas, Europa und Asien und jenen, die auf dem afrikanischen Kontinent leben. Zentrale identitätsstiftende Momente sind gemeinsame und vergleichbare historische Erfahrungen, wie Sklaverei, Kolonialismus, Zwangsarbeit, Rassismus – aber auch eine gemeinsame Widerstandtradition von Kämpfen gegen europäische Eroberer, euro-amerikanische Sklavenhalter, bis zur afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung und den afrikanischen Unabhängigkeitsbewegungen. Schließlich betonten viele politische und religiöse Bewegungen explizit die Zusammengehörigkeit von Afrikanerinnen und Afrikanern vom Kontinent und aus der Diaspora – als bekannteste wären Panafrikanismus, Négritude, Rastafari, Black Power-Bewegung oder Afrozentrismus zu nennen. Wichtige Medien zum Transport dieser Botschaften schwarzer Identität waren und sind Popmusik und Jugendkultur – Konzepte afrikanischen Selbstbewusstseins, die im Kleidungsstil, in als afrikanisch angesehenen Musikformen, -instrumenten, -harmonien, Rhythmen, Tänzen, in der Sprache, etc. transportiert werden. Besondere Bedeutung kommt dabei dem Soul, der mit dem Reggae transportierten Rastafari-Bewegung, afrokubanischen und afrobrasilianischen Musikstilen und jüngst vor allem dem HipHop zu, die natürlich auch in Westafrika rezipiert und angeeignet wurden und werden. Die in diesen Bewegungen transportierten Ideen von Afrikanität oder von Blackness gewinnen für afrikanische Migranten durch die Konfrontation mit dem Rassismus der deutschen Gesellschaft an Bedeutung – wo zuvor ethnische, regionale und nationale Kollektividentitäten prägend waren, treten für viele nun Selbstbeschreibungen als ‚schwarz’ in den Vordergrund. Allerdings gibt es unter den befragten Migrantinnen und Migranten gänzlich unterschiedliche Einschätzungen zu der Existenz einer gemeinsamen schwarzen Identität: das Spektrum der Aussagen hierzu reichte von der Ablehnung jeglicher gemeinsamer kultureller Merkmale bis zur Selbstbeschreibung als schwarz, einer die Diaspora einschließenden, pan-afrikanischen Identität im Sinne der vielzitierten Song-Zeile des Reggaemusikers Peter Tosh: „No matter where you come from, as long as you’re a Black man you are an African“.
Im eingangs erwähnten Konzertsaal findet eine Begegnung des westlichen Popkulturrahmens und afrikanischer Aufführungsformen statt. Nun ist zu bedenken, dass afrikanische Popmusik – wie die meisten Popkulturstile – nun bereits im Bhabha’schen Sinne hybrid ist, da sie auf eine mit der Kolonialzeit einsetzende Tradition der Integration westlicher Musikstile zurückblicken kann. Besonders afroamerikanische Musikstile, wie zunächst Jazz, Rumba, Son, dann Rock, Soul, Reggae, heute vor allem HipHop, prägten Generationen westafrikanischer Popmusiker. Westliche Einflüsse verdrängten aber keineswegs vorhandene Musikkulturen, wie frühere Generationen von Ethnomusikologen und Kulturpessimisten befürchteten. Die schon genannten Griots und Griottes etwa, an den präkolonialen Fürstenhöfen für die musikalische Unterhaltungen, aber auch für Geschichtsüberlieferung und die mündliche Bewahrung der Genealogien fürstlicher Familien zuständig, übernahmen westliche Musikinstrumente, Stücke und Themen in ihr Repertoire. Umgekehrt sahen sich viele westafrikanische Popmusiker und Popmusikerinnen als Nachfolger der Griots an und verstanden sozialen Kommentar, Vermittlung zwischen Regierenden und Regierten als Teil ihrer Aufgabe. Dank der Einladung von Migrantenorganisationen und auch des in den letzten beiden Jahrzehnten stark angewachsenen Interesses an afrikanischer Musik im Westen treten Griots, Griottes und westafrikanische Popstars in den Konzertsälen deutscher Großstädte auf.
Westafrikanische Migrantinnen und Migranten können in diesen Konzerten zusätzlich zur Kenntnis des auch dem westlichen Publikum bekannten Ritual eines Popkonzerts auch ihre kulturelle Kompetenz hinsichtlich der vermittelten Texte, der passenden Tanzschritte und der angedeuteten (musik-)historischen Bezüge gegenüber ihren deutschen Begleiterinnen und Begleitern demonstrieren. Derartige Konzerte bieten Migrantinnen und Migranten eine Möglichkeit ihren kulturellen Hintergrund im anerkannten Rahmen popkultureller Produktion zu präsentieren. Statt eine Begründung für ihr Hiersein liefern, ihr Herkommen rechtfertigen zu müssen, können sie es hier leben und feiern. Und wenn dabei Griots und Griottes wie seit Generationen ihre Ahnen, die historischen Leistungen ihrer Familien preisen, so mag es nicht mehr überraschen, dass nicht nur Lamin Ceesay diese Konzerte als Heimat erlebt.
Dieser Beitrag basiert auf einer Forschung zur Bedeutung von Griots in der afrikanischen Diaspora und den in diesem Zusammenhang mit Musikern, Migranten, Konzertorganisatoren und anderen Personen geführten Interviews und der Beobachtung von Konzerten und anderen Veranstaltungen, die für westafrikanische Migranten und Migrantinnen aus Westafrika (womit für diesen Beitrag damit Personen aus Gambia, Senegal, Mali, Guinea, Guinea-Bissau, Burkina Faso und der Côte d’Ivoire gemeint sind) von Bedeutung sind. Gefördert wurde diese Forschung durch die Universität Hamburg und die Heinrich-Böll-Stiftung.
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008