Von Sabine August
Zum 100-jährigen Jubiläum des Museums der Weltkulturen wurde ein vielfältiges Programm geboten: die Ausstellungseröffnung „Ansichtssachen zu 100 Jahren Museum der Weltkulturen“, eine Gedenkveranstaltung im Römer, die Enthüllung eines Kunstwerks von Bob Haouzous und weitere Highlights für das Publikum.
Die Ausstellungskonzeption von „Ansichtssachen zu 100 Jahren Museum der Weltkulturen“ ist davon bestimmt, die ganz persönliche Auseinandersetzung, den eigenen Forschungsschwerpunkt, die intime Annäherung an das Objekt jedes einzelnen Kurators in den Mittelpunkt zu rücken. Dabei wird den eigenen Träumen und Erinnerungen aus der Kindheit und dem eigenen Forschungsinteresse als Inspirationsquelle nachgegangen, sodass sich die subjektive Sicht des Kurators auf den Gegenstand enthüllt. Dennoch wird der Bezug zum gegenwärtigen Forschungsstand nicht aus den Augen verloren, im Gegenteil, die eigenen Standpunkte sind zugleich eingebettet in gegenwärtige Forschungsrichtungen und bleiben damit gleichsam Spiegel ihrer Zeit.
Die Umsetzung in minimalistischer Manier wird von den Ausstellungsmachern als Experiment verstanden: Es gibt zu den ausgesuchten Themen und Exponaten kaum Texttafeln und Beschriftungen, um nicht den Blick auf das Objekt zu verstellen. Es werden nur wenige Exponate überhaupt ausgestellt, dazu wirkungsvolle Großdias in Leuchtkästen gezeigt, die eine intensive Atmosphäre ausstrahlen. Es soll allein das Objekt (und die Fotos) im Raum auf den Besucher einwirken - eine Einladung an ihn, sich auf diese Weise intensiver mit den wenigen Stücken und der dahinter stehenden Themenvielfalt auseinander zu setzen. Weiter fällt auf, dass eine durchgehende Raumfarbgebung vermieden wird. Es gibt nur vereinzelte Farbflächen, die eine Vitrine mit dem Gegenstand noch betonen. Das Thema des Raums oder Assoziationen zu den Exponaten sind mit großen Lettern plakativ benannt.
Eigens für den Jubiläumsanlass konnte der Film „Blickwechsel“ von Viola Laske realisiert werden, der die ehemaligen Museumsleiter zur Positionierung des Museums in ihrer jeweiligen Zeit sowie die MitarbeiterInnen zu ihren persönlichen Objekt-Beziehungen befragt - ein sehr gelungenes und sehenswertes Zeitdokument.
Darüber hinaus ist zur Ausstellung ein umfangreiches Lesebuch erschienen, das sich mit den einzelnen Zeitphasen des Museums beschäftigt sowie - darin eingebettet – kurz und spotartig über ein Bild oder Objekt reflektiert.
Zwölf Themen-Räume sind in der Ausstellung realisiert worden, die im Folgenden skizziert werden. Der Eingangsbereich - mit dem Thema „Erinnerung und Gedächtnis“ - verbindet zwei Themen: Er veranschaulicht Erinnerungs- und Zeitkonzepte vergangener Kulturen, indem er dem Besucher vor Augen führt, dass das Museum selbst „ein Ort sowie Speicher von Erinnerung“ ist. Ein ethnologisches Museum verwaltet nicht nur gesammelte Objekte, Fotos und Kunstwerke aus aller Welt, sondern hat auch den Auftrag, diese als „bedeutungsvolle Träger von Informationen, Wissen und Interpretationen über Vergangenes“ der Öffentlichkeit zugänglich zu machen und Informationen über sie zu vermitteln. In diesem Sinne werden im Foyer auf eindrucksvolle Weise Knotenschnüre und Keramiken gezeigt, die den Inka aus Peru als Erinnerungsspeicher und als eine Art Datenbank gedient haben. Ein aztekischer Kalenderstein verweist auf zyklische Zeitkonzepte.
Ein bitteres Kapitel des Museums thematisiert der Raum „Hinterbliebenes“: Ein Großbild des zerstörten Frankfurt versinnbildlicht Sammlungsverluste des Museums im Zweiten Weltkrieg. Im Zentrum des Ausstellungsraumes sind in der Vitrine einige übrig gebliebene Gegenstände einer Forschungsexpedition zu sehen. Zu beklagen aber ist der Verlust des Großteils von Objekten der „Frobenius-Expedition in die Molukken und nach Holländisch Neu-Guinea“ (Neuguinea) 1937/38. Sie gingen verloren durch einen Bombenangriff am 22. März 1944, bei dem das Gebäude des Völkerkundemuseums völlig zerstört wurde. Auch Feldaufzeichnungen und Tonbandaufnahmen eines Teils der Expedition fielen einem späteren Luftangriff zum Opfer. Lediglich die Karteikarten an den Wänden mit Objektangaben und Zeichnungen zeugen noch von den mitgebrachten Gütern.
BesucherInnen kommen mit der Erwartung ins Museum, Originale zu sehen. Hier im Raum „Jedes Stück ein Original“ werden sie damit konfrontiert, dass auch bei einer Vielzahl gleich scheinender Pfeilspitzen jedes ein Original ist. Aber zunächst fällt der Blick in diesem Raum auf eine Vitrine im Zentrum mit einer einzigen Pfeilspitze. Anhand einer Reihe von 37 anderen Bambuspfeilspitzen der Yanomami aus Venezuela, die mit mythisch inspirierten Schlangenlinien bemalt sind, hinterfragt die Kuratorin frühere ethnologische Sammelkonzepte. Besonders hervorgehoben wird dabei die Zeit der kulturhistorischen Schulen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, bei der die Forscher keine (herausragenden) Einzelstücke erwarben, sondern viele ähnliche und damit vergleichbare Objekte einer Sorte. Es zeigt sich, dass dieses Vorgehen der Forscher auch Vorstellungen und Praktiken indigener Partner berücksichtigte, die Pfeilspitzen in großer Zahl austauschen, um Bündnisse zwischen den Tauschpartnern zu schließen.
Ein Objekt ist immer ein Kunst(hand)werk und immer Teil eines großen Ganzen. Der Ausstellungsraum „Nicht unbedingt dasselbe Paar Schuhe“ zeigt in überzeugender Weise, dass ein Objekt trotz seiner herausragenden Rolle als materielles Kulturerbe nicht aus sich heraus die Wirklichkeit darstellt, sondern durch die Art und Weise, wie und wo es ausgestellt wird, sozusagen nur ein Abbild der Wirklichkeit unter vielen darstellt. Die subjektive Auswahl, Interpretation und Bedeutungszuschreibung der Kuratorin bestimmen die Facette der Wirklichkeit, die durch das Objekt zum Ausdruck gebracht wird. Jedes Objekt, hier am Beispiel von Mokassins aus dem indigenen Nordamerika, kann auf sehr unterschiedliche Weise inszeniert werden. Verschiedene Darstellungsformen mit entsprechenden Texten, Karten, Fotos und Beschriftungen stellen stets unterschiedliche Aspekte eines Objektes in einen neuen Sinnzusammenhang und beeinflussen damit die Wahrnehmung des Betrachters. Viele Darstellungsweisen sind möglich. Mittlerweile beteiligen sich nordamerikanische Indianer am Ausstellungswesen, da sie Einfluss nehmen wollen auf die Darstellung ihrer Kultur in der Öffentlichkeit.
Manchmal kommen Gegenstände ins Museum - wie die drei Nägel und ein eiserner Haken im Raum „Unscheinbare Nägel und Nadeln - Schlüsselobjekte der Industrialisierung" - von denen weiß man nicht viel. Hier heißt es lediglich: „Gefunden am Strand von Jan Mayen“. In diesem Fall kann man der Karteikarte noch ein paar weitere Informationen entlocken: „vom Naturkunde-Museum Senckenberg übernommen und auf einer Expedition des späten 19. Jahrhunderts gefunden“. An dieser Stelle beginnt dann eine Art kriminalistischer Vorgehensweise und ein detektivischer Prozess des Fragens: Woher mögen sie tatsächlich stammen? Wie kommen diese Nägel an den Strand einer unbewohnten Insel in der Arktis? Wie lange befanden sie sich dort, bis eine Nordpolarmeer-Expedition sie mitgenommen hat? Wie gelangten sie in ein Völkerkundemuseum? Den Kurator faszinierten diese Nägel wegen ihrer ungeklärten Geschichte, aber auch aufgrund ihres Wertes als Zeitdokument. Nägel als „Leitfossilien der Technikgeschichte“, eine Erinnerung an Zeiten, als Nägel noch kostbar waren. Auch finden Nägel mit Köpfen (Stecknadeln), durch eine Lupe betrachtet, in diesem Raum einen Platz, doch wäre hier weniger vielleicht mehr gewesen, nämlich lediglich die Geschichte der Nägel ohne Köpfe zu erzählen.
Für das Thema des Raumes „Gesichter“ ließ sich die Kuratorin von den Kunsttöpfen Mary Goles faszinieren und inspirieren, die sich mit der traditionellen Töpferei ihres Landes Neuguinea auseinander setzte, sie nachzugestalten und weiterzuentwickeln begann. Das Besondere der Töpfe des alltäglichen wie des ausschließlich rituellen Gebrauchs: Sie sind mit Gesichtern verziert, die offensichtlich unterschiedliche Assoziationen bei der Kuratorin auslösten und auf der Wand plakativ in Worte gefasst sind. Jeder einzelne Topf und jede Schale verschiedener ethnischer Gruppen sind in diesem Raum ausgestellt wie Kunstwerke, sodass die Schönheit und Einzigartigkeit jedes Stückes voll zur Geltung kommt. Die Gesichtskeramiken - aufgereiht wie an einer Schnur - veranschaulichen die verschiedenen Töpfereitraditionen Neuguineas und führen hin zur modernen Kunsttöpferei Mary Goles. Eine stringent realisierte Idee.
Im oberen Foyer findet eines der vier Grundelemente, das Feuer als wesentlicher Energieträger, seinen Raum. „Vom Dreisteinefeuer zum Sparherd“ verweist einerseits auf die kulturellen Grundfertigkeiten des Menschen, den effizienten Umgang mit Energie, der ein Zukunfts- und Überlebensthema der Menschheit (Vermeidung ökologischer Krisen, Verbesserung der Lebensqualität) geworden ist, und vor allem auf Objekte wie Herdeinsätze, transportable Kleinöfen oder Solarkocher, die nur aus der Begegnung von Nord und Süd, von Europa und den so genannten „Entwicklungsländern“, hervorgegangen sind. Hierbei werden gleichwohl Prozesse des Kulturwandels angesprochen, nämlich wie große Veränderungen der Lebensweise von unscheinbaren Neuerungen begleitet werden. Von der offenen Feuerstelle hin zum Sparherd - nebeneinander gestellt - zeigt diese lineare Entwicklung recht illustrativ auf.
Vor allem Großobjekte wie Häuser und Boote sind es, die Besucher völkerkundlicher Ausstellungen faszinieren. Dabei spielen nicht nur die Größe des Objekts und seine Dominanz im Ausstellungsraum eine Rolle, sondern auch die Assoziationen des Betrachters. Ein so genanntes Kula-Boot nimmt im Themenraum „Fortbewegen und verbinden“ fast den gesamten Raum ein. Dem Erbauer eines solchen solide und seetüchtig gebauten Bootes zollt man aufgrund seines Wissens und seiner speziellen Fertigkeiten Respekt und Anerkennung. Das Boot steht hier neben Arbeit, Sport und Mythos auch als ein Symbol für den Aufbruch zu anderen Ufern und für die Verbindungen zwischen Menschen auf den unterschiedlichen und teilweise weit entfernten Inseln der Südsee.
Die Kuratorin des Raumes „Götter und Menschen“ thematisiert die Ambivalenz in der Betrachtung anthropomorpher Darstellungen von Menschen und Göttern aus drei Jahrtausenden mesoamerikanischer Geschichte: Zwar wirken sie einerseits vertraut - wie die Mutter-Kind-Darstellungen - doch bleiben sie uns letztlich fremd. Die Plastiken aus Ton oder Stein konfrontieren den Betrachter mit fremden Götterwelten und Lebenswirklichkeiten, die sich oft nur bruchstückhaft erschließen lassen. Sie dokumentieren dabei nicht nur künstlerische Konzepte, sondern bedienen sich des menschlichen Körpers als Projektionsfläche kulturell determinierter Normen und Werte alltäglicher und religiös-ritueller Vorstellungen. Der dunkel inszenierte Raum mit Götterplastiken auf einer angedeuteten Pyramide, umrahmt von Großdias mexikanischer Tempelanlagen, hat eine fast magische Anziehungskraft auf den Besucher.
Im Raum „Stile“ wird farbenprächtiger Federschmuck nicht allein unter ethnologischen, sondern auch unter künstlerischen Aspekten präsentiert. Dem Besucher wird verdeutlicht, dass Federschmuck - ein Erkennungsmerkmal und die hohe Kunst der südamerikanischen Indianer - nicht gleich Federschmuck ist. Denn jede indigene Gruppe hat ihren ganz eigenen Federkunststil entwickelt, der unverwechselbare ästhetische Konzepte und Gestaltungsprinzipien dokumentiert. So werden unterschiedliche „Stil-Schulen“ einiger Gruppen wie den Yanomami, Kayapó, Kamayurá, Mundurukú, Tukano vorgestellt.
Ein von persönlichen Motiven geleitetes Ausstellungskonzept ist im Raum „Spaßmacher in Java, Indonesien“ realisiert. Die Schattenspielfiguren begleiten den Kurator bereits seit seiner Kindheit. Im Schattenspiel wayang kulit , das sich auf Java und Bali auch heute noch großer Beliebtheit erfreut, können bis hundert und mehr Figuren auftreten. Einer der wichtigsten Auftritte im Spielverlauf sind die Spaßmacher. Vor der Verschmelzung der javanischen Religion mit den indischen Gottheiten des Hinduismus und Buddhismus zur indojavanischen Kultur war Semar die wichtigste Gottheit der Javaner. Danach wurde er zu einem Spaßmacher und Diener der neuen indojavanischen Götter und Helden degradiert. Doch welche Rolle spielen Spaßmacher in einer Kultur? Unterhalten sie lediglich die Zuschauer, oder haben sie noch weitere Funktionen? Die Spaßmacher Javas, Semar und seine Söhne, persiflieren lokale Begebenheiten und Skandale und schaffen damit ein Ventil für die Unzufriedenheit der benachteiligten Bevölkerung.
Motiv für die Gestaltung des Raumes „Ornamente bei den Ngadha, Flores, Indonesien“ war der Ankauf von einzigartigen seltenen Friesen und Wandbrettern, Architekturteilen der Ngadha aus Flores. Gemeinsamkeiten zwischen Mustern auf den Friesen und Mustern auf Textilien dieser Ethnie werden hier aufgezeigt. In den geschnitzten beziehungsweise in Ikat-Technik gestalteten Ornamenten finden sich Motive, die Schmuckstücken nachempfunden sind. Weltweit einzigartig sind der Brustschmuck taka , der an der Oberkante Hörner des Wasserbüffels aufweist, sowie die Kette kanatar aus geflochtenem Golddraht. Dieses Rangabzeichen trug der traditionelle Herrscher zu speziellen Anlässen. Trotz beeindruckender Exponate erschließt sich hier nicht ohne weiteres der themenrelevante Bezug zur Geschichte des völkerkundlichen Museums.
Nicht immer wird das eigene Forschungsinteresse in Kombination mit dem jubiläumsrelevanten Thema (Reflexion 100-jähriger Museums- und Objektgeschichte) in der Ausstellung deutlich. Einige Male wirkt die Themenwahl allzu beliebig und will sich nicht recht einfügen in das klare Konzept. Auch wird die Umsetzung nicht immer stringent durchgehalten. Sicherlich ist auch zu hinterfragen, ob der fachfremde, aber interessierte Besucher immer durchschaut, welches Konzept sich hinter den einzelnen Ausstellungsräumen verbirgt. Dazu wäre ein deutlicher Hinweistext hilfreich.
Ein Jubiläum zu begehen - egal ob man dabei die letzten 10, 25, 50 oder 100 Jahre feiert – ist ein Eintauchen in Erinnerungen, vor allem aber eine Zeit des Nachdenkens und der Bilanzierung. Kritische Überlegungen, wie jene Jahre verlaufen sind, was erfolgreich war, was der Verbesserung bedarf, führen zu Konsequenzen und verweisen damit in die Zukunft. Die Herausforderung an ein völkerkundliches Museum, die Vermittlung fremder Lebens- und Vorstellungswelten über ansprechende Ausstellungen zu realisieren, bleibt weiterhin wichtigstes Anliegen. Darüber hinaus ist eine gute Balance zu halten zwischen Themen, die die Museumsmacher interessieren, und solchen, die einem Museum die erwünschten Besucher bringen.
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008