ZWEI FINGERBREIT EHRE

Ehre und Schande in Albanien

Von Stephanie Schwandner-Sievers

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Brautzug in den nordalbanischen Bergen, 1993. Foto: S. Schwandner-Sievers

„Zwei fingerbreit Ehre hat uns Gott auf die Mitte der Stirn gegeben“ heißt es in der bekanntesten Variante des historischen Gewohnheitsrechts des nordalbanischen Berglandes, dem Kanun. Denn für seine Ehre stehe jeder gleichermaßen ein, „ob schön oder hässlich“. Ein jeder sei von gleichem Wert, wenn ihn für eine Ehrverletzung die Kugel dort in die Stirn treffe, und ein jeder habe die Wahl, ob er eine Beleidigung großmütig verzeihe oder Blut als Bezahlung einfordere. Ein starker Mann aber nehme „die Strafe selbst in die Hand“, denn laut dem Kanun wird er solange als tot betrachtet, bis er die Rache vollzogen habe.

Heute, mehr als einhundert Jahre nachdem diese Sätze aufgeschrieben wurden, wird jedwedes Vorkommen von Gewalt unter Albanern, ob kriminell, häuslich oder rituell, ob anarchisch oder kontrolliert, schnell mit dem Kanun und seinem patriarchalischen Ehrbegriff erklärt. Mit den Werten, auf denen der Kanun beruht und die sich auf den Schutz und die Integrität der Familie („Familienehre“), die Gastfreundschaft und die Loyalität gegenüber Freunden beziehen, identifizieren sich Albaner gerne, weniger allerdings mit dem archaischen Gebot der Selbstjustiz. Der Ehrbegriff des historischen Kanun aber umfasst alle diese Aspekte: ndera, die Ehre, die sowohl auf sozialem und familiären als auch auf ökonomischen Erfolg basiert; besa, die Ehre, die im Verhalten (wie zum Beispiel der Treue zum gegebenen Wort und dem Schutz von Sozialbeziehungen, die über die Verwandtschaftsbindungen hinausreichen) ausgedrückt wird; und burrnija, die die Ehre als Erfüllung der sozialen Erwartungen an die männliche Geschlechterrollen anzeigt (zum Beispiel die Versorgungs- und Verteidigungsbereitschaft der Familie – von burr-i, „Mann“). Auch Frauen, die „ihren Mann stehen“, können in Nordalbanien oder Kosovo als burrnesh bezeichnet werden.

Stellt also eine kulturelle Erklärung albanischer Gewalt durch den Kanun eine unzulässige Verallgemeinerung dar? Könnte der Kanun in Albanien nur eine post-kommunistische (Wieder-)Erfindung sein? Oder handelt es sich heute um die „Bastardisierung“ eines vormals funktionierenden Sozialcodes, wie das einige albanische Experten sehen? Oder gibt es vielleicht tatsächlich eine nachweisbare kulturelle Kontinuität aus vorkommunistischer Zeit in diesem europäischen Land, das von 1944 bis 1991 totalitär-kommunistisch regiert wurde und lange international isoliert war?

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Grenzziehung auf den Bergweiden, Nordalbanien 1993. Foto: S. Schwandner-Sievers

Die schriftliche Variante der über Jahrhunderte mündlich überlieferten gewohnheitsrechtlichen Gebräuche, aus dem die eingangs verwendeten Zitate stammen, beruht auf den ethnographischen Sammlungen eines albanischen Franziskanerpriesters, Shtjefën Gjeçov (1874 - 1929), im nordalbanischen Bergland des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Doch Gjeçov verließ sich auf nur einen Hauptinformanten und hatte ein politisches Anliegen. Er hoffte, durch seine Schriften zur Herausbildung einer albanischen nationalen Identität beizutragen. 1929 wurde er in der nordalbanischen Stadt Shkoder/Skutari von jugoslawischen Häschern ermordet. Albanische Franziskanerbrüder vervollständigten sein Werk, das 1933 als „Der Kanun des Lekë Dukagjin“ in Form eines Rechtsbuchs mit Paragraphen veröffentlicht wurde - so genannt in Anlehnung an einen mittelalterlichen Regionalherrscher, der als erster Kodifizierer der Lokalvariante des Kanun verehrt wird. Während der kommunistischen Zeit war der private Besitz dieses Buches in Albanien verboten, doch heute ist es an jedem Buchkiosk erhältlich. Im Ausland ist vor allem eine von 1989 stammende englisch-albanische Parallelübersetzung bekannt, die vielerorts von Polizei und Immigrationsbehörden zu Rat gezogen wird. Obwohl also Gjeçov’s Kanun als Quelle unter Berücksichtigung der Umstände seiner Entstehung vorsichtig kontextualisiert werden sollte, wird sein Werk von vielen Albanern und Nichtalbanern als ‚Der Kanun‘ Albaniens verstanden.

In Albanien, das derzeit die Aufnahme in die EU anstrebt, ist der Kanun als Erklärung für Probleme der Gewalt als ein nationales Imageproblem erkannt worden. Obwohl der Ehrbegriff des Kanun in der nationalen Wissenschaft seit kommunistischer Zeit als Beleg eines urdemokratisch-egalitären und edlen Volkscharakters gilt, wurde er als Phänomen lebender Volkskultur zur nationalen Schande. Verbannt in die Folkloreabteilung der Museen oder in den Bereich historischer Literatur, darf er dennoch gelten: Auf den Kanun zurückgeführte Blutrachemorde im postkommunistischen Albanien werden mit sinkenden Zahlen angegeben und betragen nach offizieller Verlautbarung derzeit weniger als die Finger einer Hand. Doch die albanischen Nichtregierungsorganisationen, die sich seit vielen Jahren mit der Konfliktmediation im Namen des Kanun ausländische Gelder sichern können, stellen dem die Zahlen entgegen von vielen hunderten oder sogar tausenden Familien, die in ihre eigenen Häuser eingeschlossenen, in Furcht vor der Blutrache leben. Die möglicherweise unabhängigste Schätzung stammt von einem lokal stationierten Beobachter der OSCE im Jahre 2005. Demnach leben 188 Familien im Umland der nordalbanischen Stadt Shkoder und 250 Familien in der „Malësija e Madhe“ (hohes Bergland) genannten nordalbanischen Region in Furcht vor Blutrache.

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Rituelle Präsentation einer modernen Braut in den nordalbanischen Bergen, 1993. Foto: S. Schwandner-Sievers

Es gibt auch Stimmen, die zu bedenken geben, daß neu entstandene Fälle, die auf „modernen kriminellen“ Formen der Ehrverletzungen der Familien beruhen, aus Gründen der Schande jedoch nirgendwo gemeldet würden. Typisch hierfür sind Fälle, in denen eine Tochter gekidnappt und in die Prostitution gezwungen wurde. Der darauffolgende permanente Ausschluss der „gefallenen“ Tochter geht mit dem Wunsch der Familie nach Rache am vermeintlichen Übeltäter einher. „Vermeintlich“ deshalb, weil sich junge Frauen, die sich der im dörflichen Kontext noch üblichen arrangierten Heirat durch ihre Eltern entziehen wollen, oft mit ihrem Freund zum „Kidnapping“ verabreden. Ohne den Schutz der Eltern sehen sie sich mitunter einem Missbrauch ihres Vertrauens ausgeliefert. Tradition und Familienehre können so zur Falle werden und Schande entsteht als selbsterfüllende Prophezeiung.

Ob mit oder ohne Kanun, Reputation und Image spielen in Albanien auf vielen Ebenen eine Rolle. Nach dem Ende des Sozialismus standen besonders in Nordalbanien die an kommunistisch-totalitäre Formen der Bevormundung gewöhnten Bergdorfbewohner in dem nun entstandenen staatlichen Machtvakuum relativ hilflos den neuen Problemen gegenüber. In dieser Situation stellte das vorkommunistische Gewohnheitsrecht, Kanun, eine lokal-spezifische Quelle kultureller Information dar, zum Beispiel hinsichtlich der Verteilung des vordem kollektivierten Bodens. Die von den kommunistischen Partisanen entmachteten Stammeswürdenträger griffen auf den vorkommunistischen Kanun zurück um Landbesitzansprüche gewohnheitsrechtlich (nach patrilinearer Verwandtschaft) zu rechtfertigen und um ihre stammesrechtlichen Autoritätspositionen neu zu etablieren. Diese Situation führte sowohl zum Wiederaufleben alter als auch zur Entstehung neuer Konflikte. Wo diese in Gewalt mündeten, meist innerhalb der erweiterten Verwandtschaft, erhoffte sich die Täterseite von den wiederentdeckten Kanunritualen der Versöhnung eine Möglichkeit, die erwartete Rache abzuwenden. Konfliktmediation nach dem vorkommunistischen Gewohnheitsrecht wurde bald zum großen Geschäft. Doch bei Fragen der sozialen Ehre gibt es keine Garantie, dass es überhaupt zu einer „großmütigen Versöhnung“ kommt, denn die Schwere einer Ehrverletzung wird von Opfer- und Täterfamilien meist unterschiedlich bewertet.

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Versammlung der Männer im nordalbanischen Dorf Abate, 1993. Foto: S. Schwandner-Sievers

Den Mediatoren wurde vorgeworfen, dass sie dazu beigetragen hätten, den Kanun im Norden zu reetablieren und damit lokale Parallelinstitutionen zu bilden, die die Rechtshoheit des Staates und das staatliche Gewaltmonopol unterminieren. Laut unabhängigen lokalen Gesprächspartnern liegt das Hauptproblem in Nordalbanien heute darin, „dass den Leuten gesagt wird, so und so muss man das nach dem Kanun machen, und dann machen die das: verstecken sich in ihren Häusern oder morden.” Die Mediatoren halten dem entgegen, dass der Kanun der Konflikteindämmung diene und dass während der Unruhen von 1997 in Gesamtalbanien, als die Bevölkerung die über das Land verstreuten Waffendepots plünderte, im Norden die wenigsten Todesfälle vorkamen. Probleme wie die Kriminalisierung des Kanun und eskalierende Gewalt liegen laut den Mediatoren nicht nur in der Schwäche des albanischen Rechtsstaats, sondern an einer Korrumpierung des Kanun, der vormals gewalteingrenzend gewirkt habe und nicht mehr ausreichend und im Detail bekannt sei. Ungewollt stimmen sie mit den Interpretationen internationaler Kriminologen überein, die albanische Kulturkonflikte und soziale Verwirrung in der Moderne als Ursache von Kriminalität und Gewalt ansehen. Solche Ansichten setzten aber die Annahme eines funktionierenden und „richtigen“ Kanun in der Vergangenheit voraus. Die Mediatoren haben dieses Verständnis nach altem Modell der Kanunkodifizierung in konkrete Taten umgesetzt. Im Jahre 2005 kam es zu einer überregionalen Versammlung von Stammesältesten. Sie erklärten eine Rache ausschließlich an dem ursprünglichen Täter als moralisch legitim, um damit die Übergriffe auf ganze Familien- und Verwandtschaftsgruppen und ihre sozialökonomischen Auswirkungen einzudämmen. Kritiker mahnten an, dass das auf eine Legitimierung von Ehrenmorden hinauslaufe und zweifelten, ob in Zeiten, in denen Mörder käuflich seien, derartige Vorschriften befolgt würden.

Die textkritische Auswertung von historischen ethnographischen Beschreibungen der Region lassen nicht den Schluss zu, dass der Kanun vormals ein uniformes Regelwerk war, das der Gewalteinwirkung effizient entgegenwirkte. Denn während Gjeçov’s Kanun - so wie alle Kodifizierungsversuche - einen präskriptiven (vorschreibenden) Charakter hat, sieht die ethnografische Beschreibung der sozialen Realität durch Zeitbeobachtern sowohl in Vergangenheit als auch in der Gegenwart ganz anders aus als das Ideal. Demnach kam es zum Beispiel schon während der osmanischen Zeit entgegen den präskriptiven Normen oft zur Eskalation der Gewalt in der Region, zu Sippenhaft, Vertreibung oder Ausrottung gesamter Familien, einschließlich der Frauen und Kinder. Die Dorfältesten verfügten über keine ausreichende Exekutivgewalt und nur die soziale Bewertung und Interpretation von Ehre und Schande im relativ geschlossenen Dorfkontext wirkte als moralisches Regulativ. Heute wie früher konnte kollektives Schweigen Rache verhindern oder verzögern, oder – auf der anderen Seite - konnten Gerede und Verhalten im Dorf Schande entstehen lassen, die dann Selbstjustiz als unumgängliche soziale Notwendigkeit nach sich zog.

Ehre und Schande sind dynamische Prinzipien, die in sozial-ökonomisch marginalisierten Räumen außerhalb des Rechtsstaats nicht nur in Albanien florieren. Wenn jedoch soziale Anerkennung unabhängig von patriarchalischen Vorschriften und kriminellen Ökonomien wird, erübrigen sich archaische Ehrenkodizes.

Weiterführende Literatur
ARSOVSKA, Jana und Philippe VERDUYN (2008): “Globalization, Conduct Norms and „Culture Conflict“: Perceptions of Violence and Crime in an Ethnic Albanian Context“, British Journal of Criminology 48: 226-246
Eberhart, Helmut; Karl Kaser (Hg.) (2005): Albanien: Stammesleben zwischen Tradition und Moderne. Wien, Köln, Weimar: Boehlau
GJEÇOV, Shtjefën (1989): Kanuni i Lekë Dukagjinit – The Code of Lekë Dukagjini. New York: Gjonlekaj
GRUTZPALK, JONAS (2002): Blood Feud and Modernity. In: Journal of Classical Sociology 2/2. S. 115 – 134
SCHWANDNER-SIEVERS, Stephanie (1999): Humiliation and Reconciliation in Northern Albania: The Logics of Feuding in Symbolic and Diachronic Perspectives. In: Sociologus (Beiheft 1, Dynamics of Violence: Processes of Escalation and De-Escalation in Violent Group conflicts, hrs. von Georg Elwert et al., Berlin: Duncker & Humblot). S. 133 - 152
TARIFA, Fatos (2008). „Of Time, Honor, and Memory: Oral Law in Albania”, Oral Tradition 23/. S. 3 – 14
VOELL, Stéphane (2004): Das Nordalbanische Gewohnheitsrecht und seine mündliche Dimension. Marburg: Curupira

Zur Autorin
Stephanie Schwandner-Sievers ist freiberufliche Ethnologin und Balkanologin und seit 1992 auf die albanische Kultur spezialisiert. Sie entwickelte das „Albanian Studies Programme“ am University College London; unterrichtet „The Anthropology of Eastern Europe“ an der Universität Bologna; und leitet die Beratungsfirma „Anthropology Applied Limited“ in England.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008