TEE UND TRÄUME

Zum Generationenkonflikt junger Männer in Bobo-Dioulasso

Von Claudia Roth mit Fotos von Susi Lindig

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Foto: S. Lindig

„Ich bin ein hundertprozentiger Kapitalist”, scherzt ein junger Mann in einer Teerunde, „ich weiß, wie man zu leben hat: weiß gekleidet bis zu den Schuhen – zu Fuß mach’ ich keinen Schritt mehr –, mit schwarzem Schlips, ich rauche Davidoff und esse Kaviar ...” Und er wirft sich in Pose, schlägt die Beine übereinander und balanciert elegant auf dem wackligen Eisengestell eines Stuhles, dessen Stoffüberzug schon lange fehlt. Mit ausgesuchtem französischem Akzent wendet er sich an sein Publikum: „Die Revolution gesehen zu haben war schon recht, Sankara ein guter Typ, doch ich bin ganz für den Kapitalismus, der bringt’s.” (Thomas Sankara, Revolutionsheld der 1980er-Jahre, war von 1983 bis zu seiner Ermordung 1987 Staatschef von Burkina Faso/Westafrika.) Die jungen Männer lachen. Die meisten von ihnen sind arbeitslos und verweilen gerne beim Gedanken an das große Geld. Sie sitzen vor einem der großen Familienhöfe mitten in Bobo-Dioulasso, der zweitgrößten Stadt von Burkina Faso.
Sind die jungen Bobolais faul?
Sie haben tatsächlich den schlechten Ruf, sich dreimal täglich in ihrer Familie verköstigen zu lassen und den Tag mit Teetrinken und Geplauder zu verbringen, statt Eigeninitiative zu entwickeln und sich um Arbeit zu bemühen.
Im Bild des faulen Bobolais ist unter anderem jene Verachtung enthalten, mit der die Familienältesten in Bobo-Dioulasso ihren arbeitslosen Söhnen begegnen, da sie nichts zum Unterhalt der Großfamilie beitragen. Das Bild verdeckt den Generationenkonflikt. Die Jungen sind mit der Macht der Alten konfrontiert, die sich unter den heutigen städtischen Bedingungen zwar verändert hat, aber nach wie vor bestimmend ist. Mit der Reinterpretation der verwandtschaftlichen Strukturen versuchen die Alten, auch unter den veränderten Bedingungen der heutigen städtischen Verhältnisse ihre Macht zu wahren (Marie 1997). In neuer Form behält die Großfamilie ihre traditionelle Bedeutung: Die Alten sichern die materielle und soziale Reproduktion der Familie.

Tee und Träume 2
Foto: S. Lindig

Die Macht der Ältesten ist in den zentral gelegenen Vierteln von Bobo-Dioulasso, in denen die alteingesessenen Familien der Zara, Bobo und Dioula leben, nach wie vor eine sozial bestimmende Kraft: Die Alten nehmen auf der politischen Ebene Einfluss und werden bei politischen Entscheiden konsultiert. Sie besitzen Land und haben dank einem breiten sozialen Netz Zugang zu weiteren Landparzellen, die sie auf ihre Söhne überschreiben. Und sie besitzen die großen Familienhöfe und bieten damit gleich einer Sozialversicherung den arbeitslosen Söhnen und den jungen Töchtern, die ihr erstes uneheliches Kind geboren haben, das, was es zum Überleben braucht: Nahrung, Schlafplatz, medizinische Versorgung (Roost Vischer 1997, Roth 1994). Zuweilen können sie aufgrund ihrer Beziehungen einem Sohn eine Arbeit verschaffen.
Die Söhne wohnen mit Frau und Kindern im Hof des Vaters, bis sie über genügend Geld verfügen, um auf ihrer Parzelle ein Haus zu bauen. Das kann lange dauern, unter Umständen leben sie bei den Alten, bis sie vierzig Jahre alt sind. Die Töchter ziehen bei der Heirat in die Familie ihres Ehemannes. Wenn die Jungen ausziehen, bricht die Verbindung nicht ab. Zwischen den Höfen, die über die ganze Stadt verstreut sind, besteht ein reger Austausch von Menschen und damit von Informationen, Gütern und Geld (Le Bris et al. 1987). Selbst Söhne, die in eine andere Stadt ziehen, sind von ihren familiären Verpflichtungen nicht entbunden.

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Foto: S. Lindig

Die Macht der Alten basierte in der vorkolonialen Gesellschaft auf der Kontrolle der Ressourcen. Sie verwalteten die Produktionsmittel und Kollektivgüter und verteilten sie im Nutzungsrecht. In der heutigen städtischen Gesellschaft beruht ihre Macht nach wie vor darauf, dass sie über die Infrastruktur des Hofes, über ihr Netz sozialer Beziehungen und über die Bodenpolitik letztlich die wirtschaftliche und soziale Reproduktion der Großfamilie gewährleisten, doch sind sie dafür auf die finanzielle Unterstützung der Jungen angewiesen. Die Jungen können sich auf dem urbanen Arbeitsmarkt selbstständig einen Zugang zu Ressourcen verschaffen. Die Arbeitgeber sind grundsätzlich familienfremde Personen von Staat, Industrie und Gewerbe. Das Einkommen, das sie unabhängig von den Alten erwerben, stellt deren Machtposition in Frage. Die Jungen gewinnen zwar einen Handlungsspielraum, unabhängig werden sie jedoch nicht, denn in arbeitslosen Zeiten sind sie auf die Großfamilie angewiesen. Deshalb können sich Junge, selbst wenn sie verdienen, den Ansprüchen der Alten nicht einfach entziehen.
Arbeitende Junge sind mit vielfältigen Erwartungen konfrontiert. Geld ist täglich ein knappes Gut: Dem Vater fehlt das Bargeld, um die Elektrizitätsrechnung zu begleichen; die Mutter will ihre Verwandten in Abidjan besuchen; eine Schwägerin ist mit dem Handel „gefallen”, das heißt, sie hat ihr Kapital verloren; der Vater weigert sich, das Schulgeld eines Bruders weiterhin zu übernehmen; eine Schwester wird krank und kann die verschriebenen Medikamente nicht zahlen; und ein kleiner Bruder denkt sich: 100 CFA (ca. 0.15 €) fürs Kino, das ist doch nicht viel! Hinzu kommen die eigenen Wünschen nach einem Motorrad, einem Fernseher, einer Uhr und nicht zuletzt nach einem eigenen Haus.
Von arbeitenden Jungen wird nicht erwartet, dass sie allen Erwartungen entsprechen. Ihre Kunst besteht vielmehr darin, sich richtig zu entscheiden und mit ihren Handlungen zu signalisieren, dass sie sich weder von der Gemeinschaft absetzen und egoistisch verhalten – „wie ein Weißer” in der landläufigen Redensart –, noch dass sie sich der Autorität der Alten entziehen.

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Foto S. Lindig

Die Bobolais, die ich kennen gelernt habe, müssen sich mit der Ambivalenz ihrer Väter auseinander setzen, denn diese sind in einer widersprüchlichen Situation: Die Alten sind zwar auf die finanzielle Unterstützung der Jungen angewiesen, um die Großfamilie durchzubringen, fühlen sich aber durch ebendieses erwünschte und notwendige Einkommen der Jungen verunsichert. Als Symbol einer von ihnen unabhängigen Existenz droht der gute Verdienst der Söhne die Macht der Väter zu untergraben. Auf der andern Seite halten die Alten die arbeitslosen Jungen für Versager, gefährden sie doch die Reproduktion der Großfamilie. Doch gerade ihnen gegenüber kann sich ihre Macht noch uneingeschränkt entfalten, da die Arbeitslosen als mittellose Abhängige dieser nichts entgegenzusetzen haben.

„Kein Mensch glaubt mir, dass ich dreißig bin”, sagt Madou, „denn ich lebe wie ein Kind: ohne Ehefrau, ohne Geld, vom Vater abhängig.” Die arbeitslosen jungen Männer leiden unter der Verachtung der Umgebung und ihrem Status des Kindseins, sehen aber keinen Ausweg. Madou sagt: „Ich schlafe viel, sonst muss ich zu viel nachdenken und bekomme Kopfweh davon. Man muss sich täglich sagen: ça ira!, sich zwingen dazu: ça ira! – es wird gehen! Auch wenn man nicht weiss wie, doch sonst wird es nur noch schlimmer.” Während Schüler den Vater noch um Geld bitten, untersagen sich dies die arbeitslosen jungen Männer ganz bewusst, um ihre Würde zu wahren. Sie schlagen sich durch (se débrouiller), um eine Hose, ein Hemd oder die für Bewerbungn notwendigen Marken kaufen zu können, und bitten die Mutter, eine Tante, einen Freund um Geld. „ Aber ich schäme mich und versuche, es möglichst zu umgehen und mit wenig Geld auszukommen“, sagt Madou. „Seit zwei Jahren habe ich mir zum Beispiel keine Kleider mehr gekauft.” Zigaretten kaufen die Jungen per Stück und rauchen sie gemeinsam. Für die täglichen Teerunden kommen verdienende Brüder und Freunde auf.

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Foto: S. Lindig

Für die arbeitenden Söhne ist die Suche nach dem eigenen Weg ein komplizierter Pozess, eine Gratwanderung zwischen sich widersprechenden Ansprüchen – den eigenen und den familiären. Die Väter, die gegenüber den arbeitslosen Söhnen Verachtung zeigen, greifen gegenüber den Söhnen, die Geld verdienen, auf ihre magischen Kräfte zurück, um im schwelenden Machtkampf die Oberhand zu behalten. Die Auseinandersetzung der arbeitslosen und der verdienenden Söhne mit der Generation der Väter ist verschieden, doch gemeinsam ist den jungen Männern zu wissen, was es heißt, arbeitslos zu sein. Dieses Wissen bestimmt ihr Verhalten und die Suche nach dem eigenen Weg.

Das Bild des faulen Bobolais, der es sich im Schoß seiner Familie wohl sein lässt und in geselliger Runde unbeschwert den Tag verbringt, wird der Situation der arbeitslosen jungen Männer nicht gerecht. Im Unterschied zu ihren Brüdern, die Geld verdienen und sich damit einen Handlungsspielraum gegenüber ihren Vätern verschaffen – ein Stück Unabhängigkeit –, sind die Arbeitslosen blockiert: Das fehlende Arbeitsangebot in Bobo-Dioulasso zieht sie nicht auf die Straße, und die Alten in ihrer ambivalenten Haltung stoßen sie nicht auf die Straße, auf dass sie ihre eigenen Erfahrungen machen und ihre Zukunftsideen an der Realität messen. So sitzen die Jungen gemeinsam beim Tee und träumen vom guten Leben, von Macht und Reichtum – letztlich den Traum der eigenen Unabhängigkeit.
„Also ich, ich will in die Politik!”
„Du wirst korrupt werden.”
„Ach was, man kann auch ehrliche Politik machen. Tatsache ist: Ohne Beziehungen kommst du nirgends hin, du wirst nie ein grand quelqu’un.”
„Mit Hilfe guter Beziehungen ist leicht Geld zu verdienen. Du bist doch auch eine gute Beziehung”, wendet sich einer an mich. „Du könntest in Europa Occasionsware wie Computer, CDs, Videokameras einkaufen und Mamadou schicken. Er würde damit viel Geld verdienen.” Meine Beispiele von in Europa lebenden Afrikanern, die mit diesem Handel nur Verluste machten, beeindrucken niemanden in der Runde. „Ach, sie haben den Markt falsch eingeschätzt, am Zoll nicht die notwendigen Beziehungen gehabt. Uns würde das nie passieren!” Nun überbieten sich die jungen Männer mit Geschichten über junge Männer, die alle schnell reich wurden: Der eine handelt mit Autos aus Lomé, der andere mit TVs, der dritte kann alle Computer reparieren. Die Stimmung wird euphorisch. Einer von ihnen braut den Grüntee mit Minze und Zucker in einem Kännchen auf einem Kohlekocher und serviert ihn mit einer Schaumkrone in kleinen Gläsern – der erste Aufguß ist bitter, der dritte süß.

Der Beitrag ist eine gekürzte Fassung eines 1998 publizierten Artikels in der Zeitschrift Ethnopsychoanalyse zu Jugend und Kulturwandel, Bd. 5. Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel. S. 153-166.

Weiterführende Literatur

Le Bris, Emile et al. 1987. Famille et résidence dans les villes africaines. Dakar, Bamako, Saint-Louis, Lomé. Paris: L’Harmattan
Marie, Alain. 1997. L’Afrique des individus. Paris: Karthala
Roost Vischer, Lilo. 1997. Mütter zwischen Herd und Markt. Das Verhältnis von Mutterschaft, sozialer Elternschaft und Frauenarbeit bei den Moose (Mossi) in Ouagadougou/Burkina Faso. Basler Beitrage zur Ethnologie, Bd. 38. Basel: Wepf
Roth, Claudia 1994. Und sie sind stolz. Zur Ökonomie der Liebe. Die Geschlechtertrennung bei den Zara in Bobo-Dioulasso, Burkina Faso. Frankfurt/M.: Brandes & Apsel

Zur Autorin

Dr. Claudia Roth ist Assistentin am Ethnologischen Seminar der Universität Zürich, Schweiz, und forscht seit 1989 in Bobo-Dioulasso, Burkina Faso. Ihre neuste Publikation: Jong, Willemijn de, Claudia Roth, Fatoumata Badini-Kinda, Seema Bhagyanath. 2005. Ageing in Insecurity. Vieillir dans l’insécurité. Case Studies on Social Security and Gender in India and Burkina Faso. Sécurité sociale et genre en Inde et au Burkina Faso. Études de cas. Hamburg: Lit.

Zur Fotografin

Susi Lindig ist freiberuflich tätige Fotografin in Zürich. Seit 1993 verschiedene Fotoarbeiten in Westafrika, unter anderem 1989 die Fotoausstellung zu den Seifenfrauen in Bobo-Dioulasso. Ausstellungskatalog: Susi Lindig und Claudia Roth. Travail dans une décharge: les femmes de la savonnerie de Bobo-Dioulasso / Arbeit im Abfall: die Seifenfrauen in Bobo-Dioulasso. Katalog zu Fotoausstellung.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008