Von Dirk Schlottmann
Die Beschreibung des koreanischen Schamanismus führt zwangsläufig zu der Frage: Was ist ein Schamane? Der Versuch, eine Antwort auf diese Frage zu finden, ist von Religionswissenschaftlern, Ethnologen, Ethnomedizinern, Soziologen und Psychologen unternommen worden, ohne dass sich eine allgemeingültige Definition daraus entwickelt hätte. Diese Meinungsvielfalt entsteht durch die Vielschichtigkeit des Schamanismus, die je nach Sichtweise und Forschungsschwerpunkt einen bestimmten Aspekt des Schamanentums hervorhebt. Eine wissenschaftliche Untersuchung des Schamanismus wird zudem durch den Umstand erschwert, dass der Forscher mit ungewöhnlichen, oft rational nicht zu erklärenden Denk- und Handlungsweisen in Kontakt kommt. Das kulturell Fremde des Schamanismus wurde in den ersten Beschreibungen von Missionaren, Seefahrern, Eroberern und Forschern oft missverstanden und diffamiert. Schamanen galten als Gaukler, Taschenspieler, Psychopathen und Betrüger. Die monotheistische Glaubensdoktrin der christlichen Missionare verurteilte die Interaktion mit Geistern sogar als Teufelsanbetung und Satanskult. Während die frühen Forscher den Kontakt mit Geistern in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen des Schamanismus stellten, entwickelten sich durch evolutionistische und spätere kulturanthropologische Betrachtungsweisen neue Forschungsschwerpunkte, die dem veränderten Bewusstseinzustand des Schamanen während des Geisterkontaktes besondere Aufmerksamkeit schenkten. Die gescheiterten Versuche verschiedener Ethnologen, eine allgemein gültige Definition für den Schamanismus zu erstellen, ließen das Interesse zeitweilig verebben.
In den 80er-Jahren zeigte sich in unzähligen Veröffentlichungen, die einerseits die psychologischen Komponenten des Schamanismus betonten und andererseits als das Ergebnis einer Suche nach alternativen Formen der Spiritualität zu verstehen sind, dass Schamanismus nicht mehr nur Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen sein musste. Obwohl die Beschränkung des Schamanen auf „Heiler“ dem Phänomen des Schamanismus nicht gerecht wird, genügt ein Blick ins Internet oder in eine Liste der neuen Buchveröffentlichungen zu diesem Thema, um zu erkennen, dass das neu erwachte Interesse sich primär an diesen Aspekten des Schamanismus orientiert. Die Schwierigkeit, eine Definition als Grundlage der Beschreibung des koreanischen Schamanismus zu finden, erfordert umfassende, aber allgemein gültige Aussagen, die sowohl den allgemeinen religionstheorethischen als auch den regionalen Varianten koreanischer SchamanInnen gerecht werden:
1. SchamanInnen sind in der Lage, durch ekstatische Bewusstseinszustände direkten Kontakt mit Geistern, Kräften der Natur oder transzendenten Energien herzustellen. Diese Kontakte werden bewusst herbeigeführt und können in Form von Seelenreisen, aber auch durch Besessenheit erreicht werden.
2. Der Kontakt mit dieser anderen Welt geschieht auf Wunsch einer Gemeinschaft, die aufgrund ihrer Weltauffassung davon ausgeht, dass die Welt der Geister Einfluss auf ihr „materielles Dasein“ hat. Der Kontakt wird von der Gemeinschaft nur dann gewünscht, wenn die Normalität des Lebens durch transzendale Mächte in ein Ungleichgewicht geraten ist, oder aber allgemein um Glück, Sicherheit und Erfolg zu bitten.
3. SchamanInnen werden nicht von den Geistern kontrolliert, sondern umgekehrt: Sie üben Kontrolle über einen oder mehrere Geister aus. Dieser kontrollierte Kontakt dient dem Ziel, Ursachen für Missstände zu erkennen und das Wissen zu erlangen, das zur Lösung des Problems nötig ist.
Religion und Kultur in den traditionellen Gesellschaften Asiens sind untrennbar miteinander verwoben. In fast ganz Asien ist Religion ein bestimmender Faktor des täglichen Lebens, und Korea ist diesbezüglich keine Ausnahme. In der Öffentlichkeit wird stets betont, dass die gesellschaftliche Orientierung die einer modernen säkularen Gesellschaft ist, die aber ihre buddhistische, konfuzianische, christliche und schamanistische Traditionen pflegt. Der koreanische Schamanismus ist zwar ein Außenseiter im Reigen der großen Weltreligionen und Weltanschauungen, die im modernen Korea friedlich neben- und miteinander existieren (Taoismus, Buddhismus, Christentum, Konfuzianismus und mittlerweile auch der Islam), doch gleichzeitig ist er ein fester Bestandteil der Kultur. Im heutigen Südkorea ist der Schamanismus offiziell als Religionsgemeinschaft allerdings nicht anerkannt. Er wird lediglich als genuiner Kulturbesitz und religiöse Praxis von staatlicher Seite unterstützt. Die ästhetische Gestaltung der Zeremonien und die Überlieferung der mythischen oder legendären Geschichten wird als kulturspezifische, religiöse Ressource der koreanischen Kultur bewertet und gefördert. Die verhältnismäßig große Zahl von geschätzten 100.000-250000 Schamaninnen (die weibliche Form des Terminus „Schamane“ wird verwendet, um dem deutlich höheren Anteil der Schamaninnen (80%-90%) im heutigen Korea gerecht zu werden) gerade auch in der Umgebung von Seoul bezeugt die Lebendigkeit dieser Religion und widerlegt die These, das Schamanismus einzig und allein in Jäger- und Sammlergesellschaften zu finden ist und nicht über das Potenzial verfügt, in moderneren Gesellschaften eine Rolle zu spielen. Die jahrhundertelange, nicht immer unproblematische Koexistenz von anerkannten Religionen und Schamanismus förderte bei Koreanern offensichtlich einen toleranten und pragmatischen Umgang mit Religion. Es ist durchaus nicht ungewöhnlich, dass eine Person in einem christlichen Haushalt lebt, buddhistische Tempel besucht und in Zeiten von Bedrängnis eine Schamanin frequentiert. Gewissenskonflikte entstehen aus dieser Glaubenspraxis nicht. Für Südkoreaner gilt offensichtlich die Kant'sche Erkenntnis: „Es ist nur eine Religion, aber es kann vielerlei Arten des Glaubens geben.“
Es gibt verschiedene regionale Varianten des Schamanismus. Kangsinmu (berufene Schamaninnen) finden sich im Gebiet um den Han-Fluss (Seoul), in Gyeonggi-do und, soweit noch vorhanden, in Nordkorea. Kangsinmu erfahren während ihrer Initiation mehr oder weniger intensiv die Schamanenkrankheit ( sinbyeong ) und erleben in Visionen, Träumen und Ritualen spirituellen Kontakt in Form von Ekstase und Besessenheit. Die Berufung durch die Schamanenkrankheit mündet schließlich in ein Initiationsritual ( naerim-kut ). Dieses Ritual wird von einer erfahrenen Schamanin durchgeführt und führt zur öffentlichen Anerkennung der Initiandin.
Im Gegensatz dazu haben seseupmu (Erbschamaninnen) den Beruf von ihrer Familie geerbt. Seseupmu erleben keine Schamanenkrankheit, sie besitzen keinen privaten Schrein für ihre Schutzgeister ( momju ), und sie kommunizieren nicht mit Schamanengöttern oder Geistern. Seseupmu dominieren in den Gebieten südlich des Han, in Gangwaon-do entlang der Ostküste bis Busan und in der Gyeongsang-Provinz.
Auf der Insel Jeju-do existiert ein weiterer Typus koreanischer Schamanen, der als shimbang bezeichnet wird. Shimbang kombinieren Elemente der kangsinmu und seseupmu . Der Beruf des meist männlichen Schamanen auf der Insel Jeju-do wird, wie bei den seseupmu im Süden des Festlandes, innerhalb der Familie vererbt. Die Vererbung des Berufes schließt aber nicht automatisch eine Berufung in Form von sinbyeong aus. Diese in der Literatur beschriebenen Varianten existieren heutzutage als „Reinform“ in Korea kaum noch. Durch die traditionell vorgeschriebene gesellschaftliche Isolation der Schamaninnen, insbesondere in der Joseon-Dynastie, ist es immer wieder zu Ehen zwischen seseupmu , kangsinmu und Musikern gekommen. So finden sich bei heutigen SchamanInnen immer häufiger Mischformen. Kangsinmu , die sich um staatliche Anerkennung als "national treasure" bemühen, präsentieren in der Öffentlichkeit eher ihre künstlerischen Talente, während sie im privaten Rahmen weiterhin der spirituellen Seite ihrer Berufung nachgehen. Seseupmu erklären ihre spirituellen Kontakte mit Verweis auf einen Schamanen-Vorfahren der letzten Generationen. Sie verdienen sich ihren Lebensunterhalt mit ekstatischen Ritualpraktiken, da die wenigen jahreszyklisch bedingten (Dorf-)Rituale dafür nicht ausreichen.
Bisherige Untersuchungen des koreanischen Schamanismus anhand der oben aufgeführten oder aber ähnlicher Definitionsmerkmale führen zu dem überraschenden Ergebnis, dass berufene Schamaninnen auch heute die Kriterien einer Schamanin in allen Punkten erfüllen. Berufung, Ausbildung, Weltbild und Aufgabenbereiche entsprechen weitgehend den Schilderungen des „klassischen Schamanismus“ aus dem nordasiatischen Raum, wie ihn viele Wissenschaftler beschrieben haben. Einige nennenswerte, besondere Eigenarten, die eine berufene mudang von anderen SchamanInnen Nordasiens unterscheidet und die zu den typischen Charakteristika der koreanischen Region gehören, ist das Fehlen tierischer Hilfsgeister. Götter, Geister und Ahnen haben in Korea menschliche Gestalt. Dementsprechend sind die Schamanentrachten oft Kostüme oder Uniformen bestimmter Personen oder historischer Epochen. Zudem erleben kangsinmu keine Jenseitsreisen in Trance, sondern werden von ihren Geistern inkorporiert. Schamaninnen, die ihren Beruf durch Vererbung erhalten haben (die seseupmu ), entsprechen in wesentlichen Punkten den Definitionen von Schamanismus allerdings nicht. Insbesondere das Fehlen einer ekstatischen Bewusstseinsveränderung zur Kontaktaufnahme mit der spirituellen Welt wird als Begründung herangezogen, seseupmu als Schamaninnen nicht anzuerkennen. Bei der Beschreibung des koreanischen Schamanismus rechtfertigen diese theoretischen Begriffsunterscheidungen aber nicht die Ausgrenzung der seseupmu . Sie auszugrenzen bedeutet die kulturelle Vielfalt und Dynamik des koreanischen Schamanismus, die sich bis in die Moderne erhalten haben, zu verkennen.
Bisherigen Versuche, eine allgemein gültige Form zu finden, die es erlaubt, koreanische Schamanen per Definition zuzuordnen oder zu erfassen, widersprechen der Flexibilität des koreanischen Schamanismus. Diese zeigt sich beispielsweise durch Internetmarketing, Kundensuche im Ausland, Bühnen- und Medienpräsenz oder auch durch Inventionen, wie beispielsweise Arbeitslosenrituale ( naragut ) nach der Wirtschaftskrise Ende der 90er-Jahre offenbarten. Diese sehr freizügigen Entwicklungen werden von wissenschaftlicher Seite oft als Verfallserscheinung und Degeneration beurteilt. Der Hinweis auf veränderte, meist verkürzte Ritualpraktiken, variierte Kleiderordnungen, die Integration schaustellerischer Elemente wie beispielsweise Messertänze mit geschultertem Schwein, mangelnde Ausbildungszeiten jüngerer Schamanen und die Vernachlässigung traditioneller Musikausbildung hat unter traditionellen Gesichtspunkten sicherlich seine Berechtigung. Es ist auch nicht von der Hand zu weisen, dass insbesondere in der Metropole Seoul marktwirtschaftliche Interessen und ein zunehmender Konkurrenzdruck dazu führen, dass die jüngere Generation der SchamanInnen die Grenze zwischen Spiritualität und Spektakel oft gezielt überschreitet, um Aufmerksamkeit zu erregen.
Inwieweit sich diese Entwicklungen im Laufe der nächsten Dekaden verselbstständigen oder vielleicht sogar wieder verschwinden, wird weitgehend davon abhängen, ob der Kern der religiösen Praxis, der sich aus der schamanistischen Kosmologie speist und auf den Prinzipien von Reziprozität und Harmonie beruht, erhalten bleibt. Trotz der augenscheinlichen Veränderungen ist auffällig, dass für viele Koreaner der traditionelle Schamanismus in Zeiten des Umbruchs und der Veränderung eine Quelle religiöser, kultureller und sozialer Identität bleibt. Er leistet damit einen Beitrag zur Bewahrung koreanischer Kultur und tritt einer kulturellen Nivellierung als Folge der Globalisierung entgegen. Offensichtlich empfinden viele Menschen die Möglichkeit, eine Schamanin um Hilfe zu bitten, ohne eine konkrete moralisch-ethische Verpflichtung oder Verbundenheit einzugehen, auch heute noch als Chance und Möglichkeit, gerade in alltäglichen pragmatischen Krisen- oder Übergangssituationen Hilfe zu erlangen. Solange Schamaninnen als Vermittlerinnen zwischen den Welten dieses Bedürfnis befriedigen können und Menschen von dem Wunsch getrieben werden, eine disharmonische Lebenssituation mit Beistand transzendenter Kräfte zu harmonisieren, wird das Ergebnis der Bemühungen die Auftragslage und den Fortbestand des koreanischen Schamanismus und den Erhalt dieser Tradition bestimmen.
Hoppál, Mihály (1994): Schamanen und Schamanismus. Augsburg: Pattloch Verlag.
Knödel, Susanne (1998): Heilrituale und Handys – Schamaninnen in Korea. Hg. v. Hamburgischen Museum für Völkerkunde. Hamburg: Dölling und Galitz.
Stoffel, Berno (2001): Schamanismus in Südkorea und die Wirtschaftskrise 1997/1998. Bruxelles. Peter Lang.
Kim, Chongho (2003): Korean Shamanism. The cultural paradox. Burlington. Ashgate Publishing Company.
Dirk Schlottmann ist Ethnologe und Bildjournalist. Feldforschung 2002-2004 in Südkorea zum Thema „Koreanischer Schamanismus und Moderne“, promoviert in Ethnologie an der Universität Frankfurt am Main.
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008