Von Ulrike Krasberg
Das Museum der Weltkulturen in Frankfurt am Main zeigt vom 21.11. 2002 - 23.4. 2003 die Fotoausstellung "Troubadoure Allahs. Traditionen der Sufis in Pakistan", in der Aspekte einer weltoffenen, toleranten Religiosität der Muslime im pakistanischen Indus-Tal gezeigt werden. Menschen im Westen wissen meist wenig über den Islam, und das wenige ist negativ besetzt wie Dschihad (Heiliger Krieg) oder Dschador (Schleier). Die islamische Mystik in all ihren verschiedenen Erscheinungsformen (eine kulturelle Variante davon zeigt die Ausstellung) zeigt eine religiöse Weltanschauung, die dem Menschen zugewandt und offen ist. Arme und Reiche, Gebildete und Ungebildete, Männer und Frauen, ja sogar Nicht-Muslime finden darin ihren Platz.
Die mystische Seite des Islam wird in Europa Sufismus genannt. Die islamische Mystik ist (wie die christliche Mystik auch) untrennbar mit der Religion, hier dem Islam, verbunden. Der Islam hat zweierlei Erscheinungs- oder Ausdrucksweisen: den der Schriftgelehrten und den der wandernden Sufis, der Derwische und Heiligen. Doch beide gehören zusammen und überschneiden sich in der Praxis. Bekannte islamische Schriftgelehrte waren auch Sufis wie al Ghazzali oder Ibn Arabi zum Beispiel. Und es gibt keinen Sufi, der nicht den Koran als Grundlage seines Lebens sehen würde. Anders als der Koran und seine schriftlich fixierten Auslegungen aber drückt sich der Sufismus in aktuell gelebten kulturellen Traditionen aus, die den Menschen in den verschiedenen islamischen Ländern vertraut und Teil ihrer Identität sind. Von daher treten Sufis in den unterschiedlich kulturell geprägten Ländern der islamischen Welt auch auf unterschiedliche Weise in Erscheinung. Basis und Grundidee des Sufismus, nämlich die mystische Liebe zu Allah, aber ist in allen unterschiedlichen kulturellen Ausdrucksweisen des Sufismus zu finden.
Die Liebe zwischen Allah und den Menschen als die treibende Kraft der Gottessuche wurde erstmals von der Mystikerin Rabi’a von Basra (gestorben 801) als wesentliches Element des Glaubens gesehen. Sie stellte die Liebe neben den Gehorsam zu Allah und erschuf damit ein Gegengewicht zum absoluten Gehorsam, wie er im Abraham-Mythos, der seinen Sohn Gott zu opfern bereit war, versinnbildlicht ist. Fortan galten weniger das Asketentum und die Selbstkasteiung als der wahre Weg zu Allah, als vielmehr die Liebe zu ihm. Als eine Möglichkeit, Gottesliebe zu erleben, wird im Sufismus der Ekstasetanz, auf arabisch hadra, angesehen. Er wird überall in der islamischen Welt im Rahmen eines bestimmten kollektiven Rituals, dem dhikr, vollzogen. Dieses Ritual wird aber nicht in Moscheen, sondern ausschließlich in den Logen der verschiedenen Orden (von Europäern auch Bruderschaften genannt) durchgeführt. Wobei das Ritual - je nach Orden - unterschiedlich durchgeführt wird.
Anders als in der westlichen Welt wird im Islam Ekstase als ein Bewusstseinszustand gesehen, der grundsätzlich von jedem Menschen erfahren werden kann, auch wenn er als außergewöhnlich, im Sinne von "nicht alltäglich" verstanden wird. Dieser Bewusstseinszustand gilt als die Vorraussetzung dafür, von der Liebe Allahs erfüllt zu werden, und diesen Zustand zu erreichen steht jedem Muslim und jeder Muslima offen. Gewöhnliche Menschen sollten Ekstase nur im Rahmen des dhikr - Rituals praktizieren. Erfahrene Sufis können Ekstase auch in der isolierten Meditation erleben, wenn sie zuvor bei einem Sufi-Meister in die Lehre gegangen sind.
In der westlichen wissenschaftlichen Welt sind in den Achtzigerjahren neurophysiologische Untersuchungen durchgeführt worden, um herauszufinden, ob es Zustände von Ekstase biologisch bedingt wirklich gibt oder ob dies aus wissenschaftlicher Sicht als Hokuspokus abgetan werden muss. Die während einer Ekstase oder Trance gemessenen Gehirnströme zeigten sich in den Untersuchungen verändert, nämlich verlangsamt, und ausgelöst wurde dies durch bestimmte Trommelrhythmen, aber auch durch rhythmische Gesänge (Wechselgesang) und durch Hyperventilation. Nach diesen wissenschaftlichen Forschungen können nun also Zustände von Ekstase als real angesehen werden, als der Natur des Menschen zugehörig, auch wenn dieser Zustand mit dem Selbstbild des modernen - in wissenschaftlichen Zusammenhängen denkenden - Europäers nur schwer in Einklang zu bringen ist (allerdings gab und gibt es zunehmend mehr Europäer, die diesen Zustand schon erlebten oder erleben möchten). Westliche wissenschaftliche Untersuchungen tangieren Sufis aber nicht. Sie leben verankert in der Tradition des Islam, die ihnen - vermittelt über Lehrmeister - besondere Körpertechniken und Geisteshaltungen vermittelt.
Ekstase spielt sich zwar im Körper ab, aber in den Bewegungen beim Ekstasetanz bildet sich die Ekstase - sichtbar für andere - sozusagen auf der Oberfläche des Körpers ab. Beim Vodou und Candomblé zum Beispiel, wie er in Brasilien oder auf Haiti praktiziert wird, können die Zuschauer an den Bewegungen eines Tänzers oder einer Tänzerin erkennen, welcher Gott in die tanzende Person gefahren ist, wobei die Bewegungen mit bestimmten Trommelrhythmen einhergehen. Für den Ekstasetanz im Rahmen des dhikr - Rituals ist neben den TrommlerInnen und SängerInnen auch die Gruppe der zuschauenden TeilnehmerInnen von großer Bedeutung. Erst diese Gesamtheit von Gesang, Trommel- oder Tamburinrhythmen und dem Miteinander der am Ritual teilnehmenden Personen garantiert die Wirkung des Rituals.
Ritual und Ekstasetanz bilden eine performative Einheit. Die Ekstase wird gelenkt durch den Rhythmus der Trommeln oder Tamburine, der schneller oder langsamer werden und damit die Intensität der Ekstase fördern oder dämpfen kann. Aber nicht die TrommlerInnen oder SängerInnen "bestimmen" den Rhythmus, sondern das Voranschreiten der Ekstase, wie es am Leib und an den Bewegungen der Tänzerin beobachtet werden kann. Es ist der Körper der Tanzenden, der materieller Ausdruck der Ekstase ist. Durch die für die Persönlichkeit typischen Bewegungen der Tanzenden realisiert sich der Ekstasetanz. Doch niemand ist für das, was in der Ekstase geschieht verantwortlich. Eine Person in Ekstase ist "leer", sagen die Sufis, sie ist wie ein Gefäß, erfüllt mit der Liebe Allahs.
Der Zustand von Ekstase kann auch beschrieben werden als zugleich "Ich" und "Nicht-Ich", wie bei einem guten Schauspieler, der in seiner Rolle aufgeht, der Hamlet ist, aber zugleich auch er selbst bleibt. Je größer die virtuelle Spannbreite zwischen "Ich" und "Nicht-Ich" ist, desto eindruckvoller ist der Schauspieler oder desto tiefer die Ekstase.
Das dhikr - Gebetsritual wird von Männern und Frauen in getrennten Gruppen durchgeführt. Neben den Akteuren des Rituals sind auch die ZuschauerInnen aktiver und notwendiger Bestandteil des Gesamtablaufs und tragen zur Wirkung des Rituals bei. Sie stehen dabei für das Hier und Jetzt, sozusagen für die irdene, materielle Realität. Sie bilden den schützenden Raum, in dem Ekstase vollzogen werden kann, und garantieren mit ihrer Anwesenheit für die Tatsächlichkeit dessen, was passiert.
Ekstasetanz im dhikr - Ritual ist Performance, darstellendes und zugleich wirkungsvolles Handeln. So wie es im antiken Griechenland "Handwerker des Heiligen" gab, die in einer langen esoterischen Tradition von Meistern standen, deren Aufgabe es war, das Göttliche durch Handeln in kollektiven Ritualen, den Menschen erfahrbar zu machen. Sie waren sozusagen Spezialisten für die Wahrnehmbarmachung des Metaphysischen.
Spuren dieser Tradition der "Techniker des Heiligen" (techne = Handwerk) finden wir auch heute noch in unserer eigenen Kultur. Die westliche Theatertradition hat hier ihre Wurzeln. Besonders deutlich werden diese Wurzeln in bestimmten Formen des Modernen Theaters, wie es zum Beispiel von dem polnischen Regisseur Jerzy Grotowski kreiert wurde, oder auch in der modernen Performance-Kunst. Der Islam als jüngste Hochreligion hat Aspekte des Christentums in sich aufgenommen (wie auch des Judentums). Das Christentum wiederum hat in seiner Entstehungszeit Aspekte der Metaphysik des antiken Griechenlands integriert. Das heutige dhikr - Ritual mit seinem Ekstasetanz kann somit durchaus als Erbe einiger Vorstellungen der griechischen Antike gesehen werden. So wird das Wort "Sufi" mitunter mit dem griechischen Wort sophia (=Weisheit) in Verbindung gebracht. Allerdings ist bisher kein wissenschaftlicher Beweis für diese Herkunft erbracht worden, ebenso wenig übrigens wie für die Theorie, "Sufi" käme von suf (=Wolle), dem wollenen Gewand, das die ersten Derwische trugen.
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008