Von Michael Schlottner
An der amerikanischen Westküste im sonnigen Kalifornien haben es viele sofort gewusst, andere entdecken das Album erst jetzt, aber alle sind sich einig: Midnight Strong Heart ist Kult. Hier, in Arnold Schwarzeneggers neuem Refugium, wird indianische Flötenmusik vor allem von Anhängern des New Age gehört, zur Entspannung oder zur Meditation, und in ihrer Bedeutung wird die indigene Flöte immer öfter mit dem australischen Didgeridoo verglichen. Dabei wurde das Instrument bis zum Beginn der Reservationszeit auf den amerikanischen Plains vorwiegend zur Liebeswerbung gespielt. Noch heute sind Erzählungen bekannt, nach denen junge Männer Melodien für die Damen ihres Herzens anstimmten und vielerorts berichtet man von der Intensität und Eingängigkeit ihrer Lieder, deren Tonfolge oft mit spirituellen Vorstellungen verbunden waren. Nachdem das Instrument über viele Jahrzehnte nahezu vergessen war, steigt inzwischen die Zahl der Spieler ständig, die mit ihren Auftritten rund um den Globus reisen. Zu den bedeutendsten Flötisten gehört der Lakota/Ojibway Kevin Locke, der in seinen Aufnahmen bewusst auf ätherische Synthesizernebel und ähnliche elektronische Einlagen verzichtet, die jener Musik eine Aura verleihen, die nichts mit ihren Ursprüngen zu tun hat. Stattdessen beschreitet er immer wieder andere akustische Wege und erkundet neue musikalische Klangwelten, die er mit tradierten Liedern verbindet. Seit den 1970er Jahren hat er auf Reservationen in South und North Dakota alte Sänger besucht und ihre Lieder aufgenommen. Damit verfügt er über musikalische Wurzeln, die ohne dieses Repertoire längst vergessen wären.
Den Klang der Zedernholz-Flöte verbinden viele Lakota und Ojibway mit der Essenz des Windes niya awicableze, jenem milden Lufthauch, mit dem im Frühjahr die Lerchen auf die nördlichen Plains zurückkehren. In der Vergangenheit waren diese Melodien weithin bekannt und jeder war vertraut mit ihrem Sinn und ihrer Bedeutung. Heute ist dies nicht mehr selbstverständlich und jenen Hörer, die die alten Melodien nicht kennen, bleiben auch ihre Inhalte und Botschaften verschlossen. Eine Antwort auf dieses Problem fand Kevin Locke in seiner Zusammenarbeit mit Jimmy Carlire, vielen noch bekannt als Mitglied der Rockband America. Carlire kreiierte kunstvolle Arrangements für die Titel von Midnight Strong Heart (Red Feather Music, RFP 1016, 2003). Eingängige instrumentale Settings verleihen den überlieferten Flötenmelodien, von Kevin Locke vollendet intoniert, ein meisterhaftes musikalisches Ambiente, das in seiner Vielfalt die tradierten Einlagen mit neuen Wegen zu Jazz und Blues, aber auch zu Country und Kammermusik verbindet. Ohne ihre musikalischen Wurzeln zu verlassen, erscheint hier die indianische Flötenmusik als innovative Gattung in einer breiten Themenvielfalt. Diese Lieder ohne Worte sind Crossover im besten Sinne des Wortes – eine Reise in unterschiedliche Musikkulturen und Klanglandschaften.
Der Titel des Albums bezieht sich auf den Kriegerbund Han Cokan Cante T’inza Okolakiciye, zu deutsch „Gesellschaft der starken Herzen“, deren Zusammenkünfte um Mitternacht erfolgten. Der Bund wurde einst von Sitting Bull in den 1870er Jahren neu organisiert und galt als Antwort auf die Herausforderungen durch die Landnahme der Euro-Amerikaner. Kaum jemand weiß heute, dass Sitting Bull nicht nur ein herausragender politischer und militärischer Führer, sondern zugleich auch der Schöpfer einer Vielzahl von Gesängen und Melodien war. Für die Midnight Strong Heart Society belebte er das alte musikalische Repertoire durch neue Gesangstexte, die den Sinn des Lebens gemäß den Anforderungen der schwierigen Zeiten neu beschrieben und entsprechend den Einsatz der Krieger für ihren Stamm definierten. Kevin Locke hat diese Lieder von seinem Onkel Joe Flying By kennengelernt und eigens für die Flöte gestaltet: „Mein Leben“, so eine Zeile des Titelstücks, „ist kurz und bald werde ich das Gewand der Erde tragen. Deshalb seid mutig, meine Verwandten, seid stark und mutig!“ Andere Aufnahmen haben so unterschiedliche Bezüge wie zum Büffeltanz, dem Morgenstern, der in der dunkelsten Stunde des Nachthimmels aufgeht, oder dem Omaha- bzw. Grasstanz-Bund, dessen Mitglieder ebenfalls Lieder anstimmen, um die Tugenden der Männer musikalisch zu unterstreichen. Weitere Tracks werden mit bestimmten Vogelstimmen verbunden, die einst oft auf Flöten nachgeahmt wurden. Schließlich thematisiert ein Track die Liebe zwischen Mann und Frau, während das letzte Stück von den engen Bindungen zwischen Großeltern und ihren Enkeln handelt.
Das Album ist ein Beispiel dafür, dass viele Mitglieder von indigenen Kulturen Nordamerikas entgegen westlicher Klischees über die Träger von Federhauben in vielen Aspekten mit Traditionen der Vergangenheit verbunden geblieben sind, ihre Kontinuität und ihr Fortbestehen gerade aber darauf aufbauen und gestalten, indem sie diese Traditionen in die Gegenwart einflechten und entsprechend zeitgemäß ausrichten und betrachten. Vielleicht wirkt dieses Album deshalb so wenig als Konstrukt, weil es die Verbindung zwischen Tradition und Moderne so unmittelbar zum Ausdruck bringt. Man kann sie atmen hören.
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008