Von Christian David Sauer
Spätestens seit der letzte Werbespot eines bekannten japanischen Automobilherstellers zur besten Sendezeit über unsere heimischen Bildschirme flimmerte, ist der surrende, metallische Klang des brasilianischen Musikbogens Berimbau, der die fragliche Aussagekraft des Werbejingles ‚sum-sum-sum’ begleitet, zumindest keine akustische Neuheit mehr.
Seinem kulturellen Kontext enthoben erlebt der Berimbau nicht erst jetzt eine Re-Integration quer durch musikalische Genres: schon in den 60er Jahren hat der argentinische Jazz-Saxophonist Gato Barbieri begonnen, den Sound des Berimbau in seine Musik mit einzuflechten; einem breiteren Publikum bekannt wurden die Klänge afro-brasilianischer Musikkultur spätestens seit Paul Simons ’The rhythm of the Saints’ (1990), und sogar Heavy Metal-Freaks wurden auf dem 1996er-Album ‚Roots’ der international erfolgreichen brasilianischen Band Sepultura mit den hier bislang unbekannten Tönen indigener brasilianischer Instrumente konfrontiert und für neue Klangwelten „sensibilisiert“.
Schon früh haben vorallem afrikanische Musikbogen das Interesse der Vergleichenden Musikwissenschaften geweckt, die sich zu Beginn des 20. Jh. als eigenständige Forschungsrichtung zu etablieren begannen. Die vermeintliche Einfachheit ihrer Konstruktion prädestinierte sie dazu, lange als „Urformen“ anderer, „höherentwickelter“ Saiteninstrumente betrachtet zu werden (Montandon 1919, Sachs 1928). Von derartigen darwinistischen Interpretationsansätzen hat sich die zeitgenössische Forschung weitgehend distanziert und rückt nunmehr die Möglichkeiten zu rhythmisch sehr komplexen Spielweisen und großen Improvisationsfreiheiten in den Vordergrund, die gerade solch „schlicht“ konstruierte, auch heute noch vielerorts als „primitiv“ erachtete Instrumente bieten (Wegner 1984). Eine exakte Datierung für das erste Vorkommen genuin brasilianischer Musikbogen ist in der mündlichen Tradierungsform afroamerikanischer Kulturen schwer möglich. Erstmals beschrieben und dokumentarisch erfasst wurde der Berimbau in Bahia 1817 vom Engländer Henry Koster. Von den als ‚typisch brasilianisch’ bezeichneten Saiteninstrumenten weist kaum ein anderes so eindeutig nach Zentralafrika und ist gleichzeitig dennoch so eng mit den kulturellen Entwicklungen im Land (Brasilien) verbunden wie der Berimbau (de Oliveira Pinto 1991).
Der Berimbau stellt eine Verknüpfung zweier zentralafrikanischer Musikbogentraditionen dar, die den Kulturen der Bantu-Völker entstammen und mit der in Bahia und ganz Brasilien bekannten Form bis auf geringe typologische Unterschiede historisch vergleichbar sind: in der Provinz Huila in Südwestangola sind sie als mbulumbumba, in der Region um die Stadt Benguela als oburububa bekannt. Weitere Gebiete Afrikas, in denen mit dem Berimbau fast identische Bögen vorkommen, sind Swasi, Mosambik, Ruanda, Burkina Faso und Ghana. Zu den präkolumbischen Musikbogen Amerikas besteht hingegen keinerlei Verwandtschaft, und auch der Name belembautuyan eines Musikbogens der Chamorro-Bevölkerung auf der Insel Guam (Marianen-Inseln) in Mikronesien lässt höchstens auf eine etymologische Verwandtschaft schließen, die vom portugiesischen berimbau oder dem englischen bellybutton herrühren kann und möglicherweise durch koloniale Handelsbeziehungen in diese Region getragen und entlehnt wurde.
Den Grundbaustein des Berimbau bildet ein ca. 1,5 m langer Bogen aus dem Holz des Beriba-Baumes, dessen gleichermaßen zähes wie elastisches Holz besonders für den Bau geeignet ist. Über die Enden wird die einzige Saite (corda) des Instruments gespannt, für deren Herstellung in vorindustriellen Zeiten noch Tiersehnen, Darm oder spannungsresistente Pflanzenfasern dienten. Heute besteht sie aus Stahldraht, der in der Regel aus ausrangierten Autoreifen herausgeschnitten und mit dem Messer nachbearbeitet wird, bevor er an den beiden Enden des Bogens befestigt wird.
An dessen oberen Ende vermeidet ein Stück Leder einerseits ein Aufspalten des Holzes durch den Überdruck der hart gespannten Saite, dient aber andererseits auch als Klangverbesserung, da so ein ungewolltes Vibrieren oder Schnarren der Saite im direkten Kontakt mit dem Holz vermieden wird. Eine ausgehöhlte Kürbiskalebasse (cabaça) wird als Klangverstärker mit einer Schlaufe über die gespannte Saite gezogen. Vom Befestigungspunkt dieses Resonanzkörpers am Bogen hängt der Grundton ab, wodurch je nach Spieler die Stimmung/Intonation des Berimbau individuell geändert werden kann. Die Größe der Kalebasse und die Stimmung des Berimbau definieren wiederum dessen drei Unterkategorien Gunga, Media und Viola, denen im Zusammenspiel miteinander jeweils spezifische Funktionen und Spielweisen zugeordnet sind.
Die komplexe Halte-, Spiel- und Anschlagstechnik erfordert erhebliches Geschick und einige Koordination: Mittel- und Ringfinger einer Hand (meist die rechte) umfassen den Bogen oberhalb der Kalebasse, während der kleine Finger zur horizontalen Stabilisierung in deren Fixierungsschlaufe „eingehängt“ wird. Zwischen Daumen und Zeigefinger wird eine große Münze oder ein flacher Stein (dobrão, moeda oder pedra) gehalten, die durch Druckausübung auf die Saite deren Schwingung verkürzt - somit entstehen zwei Haupttöne, die sich in etwa durch ein Halbton-Intervall voneinander unterscheiden; durch ein nur leichtes Berühren der Saite mit dem dobrão wird ein weiterer „Zwischenton“ erzeugt, der als eigentümliches Rasseln ein festes perkussives Element der Spieltechnik bildet. Die freie Hand schlägt mit einem zwischen Daumen und Zeigefinger gehaltenen Holzstöckchen (vaqueta) die Saite an, wodurch die Spielrhythmik bestimmt wird. Das caxixi, eine mit trockenen Bohnen, Maiskörnern o.ä. gefüllte Korbrassel, die in der gleichen Hand gehalten wird, begleitet die Anschlagsrhythmik.
Beim Spielen des Berimbau wird der Abstand zwischen Resonator-Öffnung und Bauch bis hin zum vollständigen Abdecken der cabaça ständig verändert, wodurch die Töne unterschiedlich abgedämpft oder in ihrem Klangspektrum beliebig variiert werden können; das so herbeigeführte An- und Abschwellen des Tons erzeugt einen Effekt, der stark an den WahWah-Sound elektrischer Gitarren erinnert.
In seiner traditionellen kulturellen Bedeutung steht der Berimbau untrennbar im Kontext mit der wahrscheinlich martialischsten Ausprägung tänzerisch-dramatischer Kulturform in ganz Lateinamerika, der Capoeira: angesiedelt im Grenzbereich zwischen Ritual, Schauspiel und Tanz, ist die Capoeira eine bis ins späte 17. Jahrhundert zurückgehende Kunst der Afro-Brasilianer, in der Körper, Bewegung und Raum, Stimme, Gesang und Musik, Ritual und Philosophie eine untrennbare Einheit bilden. Die in den quilombos (selbstverwaltete Kommunen geflohener Sklaven verschiedener ethnischer Herkunft) Nordostbrasiliens ursprünglich als Kampfform zum Widerstand gegen die Unterdrückung durch die Sklavenhalter entwickelte Capoeira wurde von den Afrobrasilianern mit der Zeit in ein bewegtes Spiel mit musikalischer Begleitung modifiziert. Dies geschah nicht zuletzt, um den verbotenen und mit drakonischen Strafen verhängten, effektiven Kampfsport als harmlosen Zeitvertreib zu tarnen – bezeichnenderweise gibt es auch heute noch außer dem Terminus jogo (Spiel) keine verbindliche Definition für die performative Aufführung der Capoeira.
Die toques genannten „Rhythmen“ des Berimbau, die das Spiel der Capoeira-Tänzer begleiten und bestimmen, haben eine weit gefasste Bedeutung, die über die reine portugiesische Übersetzung als „Schlag/Anschlag“ deutlich hinaus geht und ganze Spielweisen, Motive oder Phrasen bezeichnen kann. Auch wenn sie stets mit leichten individuellen Variationen gespielt werden, herrscht über die wichtigsten toques ein über die regionalen Grenzen Bahias und Brasiliens hinaus gehender internationaler Konsens. In Namensgebungen wie Benguela, São Bento, Santa Maria oder Iuna und den Texten der Lieder spiegelt sich die Vermischung des europäischen Volkskatholizismus mit afrikanischen Glaubensvorstellungen in Afro-Amerika wider, und nicht selten sind Berimbau-toques rhythmische Adaptionen von Trommel-Rhythmen des Candomblé, der dominierenden synkretistischen Glaubensform Bahias. Andere toques wie die Cavalaria, die in Zeiten der Kriminalisierung und Verfolgung der Capoeira angeschlagen wurde, um das verbotene Spiel sofort zu stoppen, sobald sich einer der gefürchteten Trupps berittener Polizisten näherte, kündigt heutzutage bezeichnenderweise herannahende Touristengruppen an, wodurch die Spieler zu einer dramatischen, martialisch-akrobatischen Performance angeheizt werden, um den staunenden Reisenden etwas Kleingeld zu entlocken.
Als schwer zu definierendes „kulturelles Genre“, das verschiedenste Charakteristika aus Kampfkunst, Tanz, Ritual, musikalischer Performance und Theater vereint, sind es fest eingeschriebene Bestandteile wie die verwendeten Instrumente (vor allem der Berimbau), die Kreisform der roda, die toques und zentrale Bewegungselemente (besonders die ginga genannte wiegende, tanzschrittartige Basisbewegung der Capoeira), die die konstanten Strukturen des Spiels bilden.
Der Berimbau als das „Herz“ und Leitinstrument einer jeden roda-de-Capoeira öffnet die Türen für Gesänge und Litaneien, in denen kulturelles Wissen und koloniale Geschichte des brasilianischen Volkes verankert ist – im Rahmen der rituellen Performance der Capoeira bringt auch der Berimbau dieses kulturelle Gedächtnis zurück in das Bewusstsein der Teilnehmenden.
Musik/Tonträger:
The Art of Berimbau
Label: Buda
ASIN: B000024V3F
Berimbau E Percussão Music
Label: Universal (Indigo)
ASIN: B00004SPS5
Batacuda & Capoeira
Label: Soul Jazz (Indigo)
ASIN: B000023Y1V
Capoeira Brazil
Label: Playasound (SunnyMoon)
ASIN: B00008LPNL
Capoeira Mata Um
Label: Tropical (BMG)
ASIN: B00005JT54
Grupo Axe Capoeria Vol.5
Label: Canada
ASIN: B0000AISXO
Weiterführende Literatur:
Koster, Henry (1817): Travels in Brazil
Montandon, G. (1919): Le généalogie des instruments de musique et les cycles de civilisation
Oliveira Pinto, Tiago de (1991): Capoeira, Samba, Candomblê. Afro-Brasilianische Musik im Recôncavo, Bahia
Sachs, Curt (1928): Ursprung der Saiteninstrumente
Wegner, Ulrich (1984): Afrikanische Saiteninsturmente
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008