Don Handelman ist seit 1998 Mitglied der Israel Academy of Sciences and Humanities und Sarah Allen Shaine-Professor of Anthropology and Sociology an der Hebrew University of Jerusalem. Er gilt zurzeit als einer der führenden Ritualtheoretiker und „Spiel“-Philosophen. Er hat zu Ritual und Spiel eine ganze Reihe von Konzepten entwickelt (z. B. symbolic types, public events, proto-events, Moebius framing, brading ) und in verschiedenen kulturellen Kontexten und Kulturen über unterschiedliche Themen geforscht und gearbeitet ( shamanic rituals, festivals, circus, sport, ritual clowns, play, hindu myths etc.).
Ende Mai - Anfang Juni 2004 wurde er vom Sonderforschungbereich Ritualdynamik (SFB 619) und dem Südasien-Institut der Rupert-Karls- Universität-Heidelberg eingeladen, einen Vortrag und Workshop zu halten. Dabei ergab sich die Gelegenheit für dieses Interview.
Reizakis: Professor Handelman, ich habe einige Informationen über Ihren Werdegang als Anthropologe zusammengetragen. Erlauben Sie mir, diese hier aufzuführen:
Sie sind 1939 in Montreal geboren. 1959 haben Sie sich an der McGill University eingeschrieben, wo Sie erst Ihren Bachelor of Arts bekommen haben und dann Magister der Anthropologie geworden sind. William Wilmot, Toshyo Yatsushiro, Jacob Freed und Richard ‚Dick‘ Salisbury waren ihre Lehrer dort. Erwähnenswert ist aus dieser Zeit, dass Sie Erwin Goffmans „Presentation of the Self in Everyday Life“ gelesen haben und davon nachhaltig beeindruckt waren. Beeindruckt haben Sie damals auch die Theorien und Diskussionen der British School of Anthropology. Später wurden Sie zusammen mit David Salisbury Forschungsassistent und danach Doktorand an der Pittsburgh University, wo Sie auch Ihre ersten Lehrfahrungen sammeln konnten. 1966 haben Sie Pittsburgh verlassen, um an einem Forschungsprojekt bei Max Gluckman, dem damaligen Direktor der Manchester School of Social Anthropology, teilzunehmen. Sie hatten ein Stipendium für ein Jahr in Manchester, zwei Jahre in Israel und noch mal ein Jahr in Manchester. Nach fünf Monaten Aufenthalt in Manchester, wo Sie sich mit „Situationsanalyse“ und „extended case study“ beschäftigten, verließen Sie im Februar 1967 Manchester, um in Tel Aviv Hebräisch zu studieren. Dort haben Sie auch ihre zukünftige Frau kennen gelernt, im Jahr des Sechs-Tage-Krieges. Auf der Suche nach einem geeigneten Feldforschungsprojekt für Ihr Promotionsvorhaben entdeckten Sie eine Reihe kleiner Ausbildungsworkshops in einem Programm für die Wiedereingliederung von Arbeitslosengeldempfängern, die Sie unter die Lupe nahmen. Ich habe gelesen, dass es Sie faszinierte zu beobachten, wie zwei miteinander sprechende und agierende Menschen eine beobachtbare Struktur hervorrufen, die gleichzeitig sie selbst als Interagierende prägt und auf die sie reagieren. Dies wurde das Fundament Ihrer Doktorarbeit, die später überarbeitet als Buch unter dem Titel „Work and Play among the Aged: Interaction, Replication and Emergence in a Jerusalem Setting“ (Assen: Van Gorcum, 1977) erschienen ist. Nach der Feldforschung in Israel kehrten Sie für kurze Zeit nach Manchester zurück, wo Sie mit Bruce Kapferer, mit dem Sie heute noch befreundet sind, ein Paper über Forms of Joking Activity geschrieben haben, das 1972 im American Anthropologist erschienen ist. Ihrer Frau zuliebe haben Sie sich dann aber entschlossen, nach Israel umzusiedeln, und 1971 bekamen Sie eine Stelle in der Abteilung für Soziologie und Anthropologie in Teln Aviv, die erst Mitte der 60er gegründet worden war. Später wechselten Sie dann an die Universität von Jerusalem, wo Sie bis heute lehren.
Man kann sagen, dass Ihr Denken entscheidend von Gregory Bateson und Victor Turner geprägt ist. Während einer Konferenz in Japan sind Sie und Victor Turner gute Freunde geworden. In Ihren Schriften über „Liminalität“ und „Antistruktur“, über Ritual und Spiel, über „symbolische Typen“ und „rituelle Clowns“ kann der Leser seinen Einfluss merken. Auch Batesons Ideen aus seinem Artikel „ A Theory of Play and Fantasy“ (1955) haben Sie nachhaltig in Ihren Forschungen beeinflusst: Die Weiterentwicklung von Batesons Konzept ‚metacommunicative frame‘ ist Ihr Verdienst. Die zwei tragenden Säulen Ihrer Theorie sind auf diesen Artikel zurückzuführen: 1. die formende Logik, mit der Kulturphänomene organisiert und geprägt sind, und 2. die Komplexität der Art und Weise, wie man andeutet und vermittelt, dass die Ernsthaftigkeit des Alltags zugunsten eines Spieles verlassen wird.
Professor Handelman, ich möchte Sie bitten, Ihre Publikationen zu kommentieren. Welche Ihrer zahlreichen Bücher sind für Sie besonders wichtig?
Handelman: Mein wichtigstes Buch ist “Models and Mirrors: Towards an Anthropology of Public Events” (first edition: 1990, Cambridge & New York: Cambridge University Press; second edition: 1998, New York and London: Berghahn Books). Dieses Buch ist entstanden aus Studien über unterschiedliche Rituale. Manche dieser Studien analysieren erneut Material, das andere präsentiert haben und das mich, was den Begriff „Ritual“ betrifft, unzufrieden gemacht hat. Insbesondere was die Selbstverständlichkeit anbelangt, mit der Anthropologen diesen Begriff als eine Art Schirm nehmen, unter dem alle Arten von Ritualen eintönig zusammengefasst werden. Als Ritual wird einfach das genannt, was folgende Parameter hat: formales Verhalten, wiederholbares Verhalten, soziales Verhalten, Verhalten mit besonderer Fokussierung auf bestimmte Objekte und Themen usw. Vor allen Dingen fehlt öfter in anthropologischen Studien über Rituale die Erkenntnis, dass in vielen traditionellen Gesellschaften Rituale Transformation bewirken. Sie bewirken Transformation und Veränderung auf eine radikale Weise aus sich selbst heraus, durch das Geschehen während und im Ritual. Gängige anthropologische Ansichten dagegen gehen von der Annahme aus, dass das Ritual eine Repräsentation (der sozialen Ordnung, der Kultur) sei. In Forschungen wird das Ritual gemeinhin genutzt, um über Aspekte der sozialen Ordnung, sozialer Institutionen und Prozesse, die meist sehr wenig mit dem Ritual als solchem zu tun haben, zu reflektieren. Solche Forschungen hören meistens hier auf, sie führen nicht weiter. Viele Anthropologen meinen, das Ritual sei eine Art Schatztruhe für die Aufbewahrung von Informationen über gesellschaftliche Symbole usw. Dies ist meiner Meinung nach eine sehr oberflächliche Weise, das Ritual zu verstehen. "Models and Mirrors" ist entstanden aus dem Versuch heraus, Rituale als fähig zur Transformation zu denken. Aus diesem Grund ist dieses Buch für mich mein bedeutendstes.
Seit ich mich für indische Mythologie interessiere, habe ich zwei Bücher zusammen mit meinem Kollegen David Shulman geschrieben, die mir sehr am Herzen liegen. Sie setzen sich mit der Siva-Mythologie auseinander. Beide unternehmen den Versuch, in Bezug auf die Siva-Mythologie eine neue Denkweise aufzuzeigen. Sie unterscheiden sich erheblich von dem, was Indologen bis jetzt geschrieben haben. Es sind: “God Inside Out: Siva’s Game of Dice” (New York: Oxford University Press, 1997) und “Siva in the Forest of Pines: An Essay on Sorcery and Self-Knowledge” (Delhi: Oxford University Press, 2004). Das Konzept des „spielenden Gottes“ ist eine der expressivsten und wichtigsten Richtungen in der jahrhundertealten indischen Metaphysik, die sich vor allem an vielen Überlieferungen über Gott Siva fest macht. In God Inside Out stellen David Shulman und ich dar, dass das Asketentum, das oft in Verbindung mit Siva, Yoga und der hinduistischen Religion gebracht wird, der hinduistischen Logik doch sehr fremd bleibt. Sowohl Indologen als auch Anthropologen, die interessiert sind an Spieltheorie, können in diesem Buch viele Denkanstöße finden. In dem anderen Buch Siva in the Forest of Pines präsentieren David Shulman und ich den Daruvana-Mythos: Ein Gott wandert in einem Wald im Himalaya-Gebirge. Menschen treffen diesen Gott, und die Begegnung verändert beide, sowohl den Gott als auch die Menschen. In diesem Buch verbinden wir Geschichte, Ritual, Ikonographie und Philosophie.
Ich sollte aber auch mein letztes Buch erwähnen. Ein Teil meiner Studien über das Ritual sind Studien über das, was ich "öffentliche Ereignisse" (public events) genannt habe. Öffentliche Ereignisse in modernen Gesellschaften sind vom Staat oder anderen sozio-politischen Gruppen organisiert. Meine Vorstellung zu dieser Art Rituale ist, dass sie mittels bürokratischer Logik organisiert sind. In meinem letzten Buch „Nationalism in the Israeli State: Bureaucratic Logic in Public Events“ (Oxford and New York: Berg Publishers, 2004) analysiere ich öffentliche Ereignisse in Israel, und ich zeige, wie bestimmte moderne staatliche Rituale sich nicht durch Transformationsprozesse ausweisen und konstituieren, sondern durch bürokratische Logik, die aber auch eine Art Transformation ist ... Aber dies hier zu erklären, würde zu weit führen.
Reizakis: Man kann ja Ihr Buch lesen. Wäre es möglich, noch etwas über Ihr Konzept „logic of design“ des Rituals zu erläutern? Sie sagen darüber, dass es die Organisationslogik eines Ereignisses ist, und Sie unterstreichen dabei, das, was immer ein Ereignis oder Ritual in Bezug auf die Welt oder auf die Umgebung, aus der es hervorgetreten ist und in der es praktiziert wird, bewirken kann, im Wesentlichen mittels seiner formenden Logik geschieht. In Zusammenhang dazu gibt es einige Konzepte, die Sie bevorzugen, wie z. B. „Selbst-Referenzialität“ und die „Autonomie“ des Rituals. Da Sie nicht aus der Schule des französischen Strukturalismus kommen, wäre es interessant, diese Konzepte zu erläutern. Was könnten Sie über diese Konzepte sagen?
Handelman: Darauf kann ich hier nicht weiter eingehen, das würde zu weit führen und den Rahmen sprengen. Ich kann aber folgendes sagen: Soziale Phänomene sind nicht einfach "sozial" oder "kulturell" konstruiert. Sie sind konstruiert mittels verschiedener differenzierbarer "logics of design". Diese "logics" bewirken, dass es im Ritual, in der rituellen Handlung auch Auswirkungen auf das Ritual selbst gibt. Die "logics" bestimmen, ob es transformativer oder doch repräsentativer wird. Diese "logics of design" sind immer kulturell verankert und haben auch organisatorische Eigenschaften. Es kann sich um ein kleines System handeln, in dem das System selbst den Wandel evoziert. So gesehen ist Ritual ein System, das System selbst bewirkt den Wandel, und dieses Ritual ist so organisiert wie seine formende Logik. "Logics of design" sind für den Vergleich von Ritualen mit einem unterschiedlichen Grad an Organisationskomplexität wichtig.
Reizakis: Gibt es neue Wege, die Sie in der Zukunft verfolgen würden?
Handelman: Ja. Ich möchte das Ritual als solches untersuchen. Was ich damit meine? Ich möchte das Ritual erst aus seinem kulturellen und sozialen Kontext herausnehmen. Dies ist natürlich nur eine heuristische Methode, die keinen Eigenwert hat. Es ist lediglich ein Experiment, mit dem ich versuche aufzudecken, was ein Ritual ist, was man im Ritual entdecken kann. Damit kann es gelingen, Erkenntnisse über Rituale in Bezug auf das Ritual selbst zu gewinnen. Was ist ein Ritual als soziales Phänomen, welchen Komplexitätsgrad und welche selbstgestaltende Organisation besitzt es? Danach - und falls man mehr über seine sozialen Funktionen usw. erfahren möchte - kann man es wieder in seinen sozialen Kontext zurückstellen und über seine Beziehung zu diesem sozialen Kontext reflektieren. Dies ist eine Richtung, die Hauptrichtung, darüber mache ich mir zurzeit Gedanken.
Reizakis: Professor Handelman, vielen Dank für dieses Interview.
Handelman: Gern geschehen!
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008