Von Mona Suhrbier und Gerda Kroeber-Wolf
Einen Blick in die Töpfe der Welt werfen - dazu laden nicht nur Starköche und prominente Hobbykochkünstler im Fernsehen ein. Auch das Museum der Weltkulturen Frankfurt am Main lädt ein, in der Ausstellung „AugenBlicke. Keramik der Moche und Shipibo, Peru“, einen Blick in riesige Biertöpfe zu werfen. In ihren Bäuchen kann man das gesamte Weltall entdecken, und die aufmodellierten Gesichter erzählen Geschichten von der mythischen Schlange Ronin.
Weltweit verbinden sich mit Töpfen Geschichten über wundersame Begebenheiten. Schon als Kinder lernen wir einen sagenhaften Topf kennen. Auf Zuruf kocht er süßen Hirsebrei, so lange und so viel, bis man ihm Einhalt gebietet. Nur ein kleines Mädchen kennt die Befehle: „Töpfchen koch“ oder „Töpfchen steh“, so hat sie es von einer alten Frau gelernt. Die Mutter des Mädchens aber kennt die Worte nicht, die den Brei stoppen kann. Und das Töpfchen kocht und kocht den Hirsebrei, bis die ganze Straße darin untergeht. Der süße Brei , ein Märchen nach den Brüdern Grimm, lehrt uns schon früh: Wer die richtigen Worte kennt, bringt die Töpfe zum Kochen, und alle Wünsche nach leckeren Speisen werden ohne Zutun der Menschen wie von selbst erfüllt. „Fülle dich, Topf!“ heißt es etwa im österreichischen Märchen Der Zaubertopf und die Zauberkugel . Weltweit wiederholt sich das Motiv des durch Worte gelenkten Topfes in den Märchen.
Der brasilianische Künstler Roberto O. Griot setzt in seinem Werk „Ehrung an die Hausangestellte“ 1991 (Öl und Blattgold) einem Hausmädchen einen goldenen Kochtopf als Krone auf und fügt ihr die Zeichen und Attribute der afro-brasilianischen Göttin Yansã hinzu. Auf den Kopf gesetzt verwandelt der Topf das Hausmädchen in eine Königin und Göttin. Dieses zunächst politisch motivierte Motiv greift ein altes und weit verbreitetes Bild aus Märchen und Mythen auf: Kochtöpfen schreibt man vielerorts die Fähigkeit zur Verwandlung zu. Demzufolge umfassen Kochen und das Hantieren mit Kochgeschirr mehr als einfache Handarbeit. Sie erfordern umfangreiches Wissen auch im religiösen und magischen Bereich. So gleicht jede Köchin einer Königin: Sie kennt das Geheimnis ihrer Töpfe und bringt sie dazu, diverse Zutaten in schmackhafte Mahlzeiten zu verwandeln. So Gekochtes ernährt die Menschen und verschafft ihnen Wohlbehagen.
Zaubertöpfe in Märchen stammen stets aus einer anderen Welt. Sie tauchen plötzlich auf oder werden an entlegenen Orten von ungewöhnlichen Menschen überreicht. Sie gehorchen ihren Besitzern oder denen, die sie gefertigt haben. Im afrikanischen Märchen Der Topf, der auf dem Kopf festsaß (Kamerun) klopft sich Mbango auf die Schenkel und befiehlt dem auf dem Kopf ihres Gatten festsitzenden Topf: „Du, Topf! So gewiss du auf diesem Schenkel gedreht wurdest, sollst du jetzt gleich von Tangas Kopf herunterkommen!“ Und der Topf gehorcht seiner Herstellerin. Zaubertöpfe bedürfen immer besonderer Behandlung: Man darf sie nicht säubern oder der Sonne aussetzen, muss beim Zaubern die Türen geschlossen halten, sonst verlieren sie ihre Zauberkraft oder zerbrechen. Denn die Töpfe in Märchen sind meistens aus Ton gemacht und gehen leicht zu Bruch.
Ganz aus Ton bestand der Körper der Prinzessin Reshín-mea aus Peru, einer Urahnin der Shipibo-Indianer am Ucayali-Fluss im Regenwald. Sie, die erste Töpferin, lehrte die Shipibo-Frauen das Töpfern. Ihr Ehemann, ein Mensch, musste ihr bei Regen immer ein Schutzdach errichten, damit sie nicht nass wurde. Eines Tages vergaß er es, und die schöne Prinzessin zerfloss im Regen. Nur ein Häufchen Ton blieb von ihr übrig. Aus Ton fertigen seitdem die Shipibo-Frauen ihre großen und kleinen Töpfe für Bier und Wasser, Kochtöpfe und Essgeschirr (zu sehen in der Ausstellung „AugenBlicke“). Sie geben ihren Töpfen Gesichter und bemalen sie mit komplizierten Mustern, ganz so als erinnerten sie damit an Reshín-Mea, die schöne Prinzessin aus Ton.
In den Märchen sind die wundersamen Töpfe meistens unscheinbar, und man hält sie für wertlos. „Nur ein Topf“, murmelt die Ameise im Märchen Ananse und der Topf (Ghana), als sie den glasierten Topf in der Sonne glitzern sieht. Der Topf widerspricht; „Ich bin nicht irgend ein alter Topf. Mein Name ist ‚Füll dich voll’“. Er enthüllt damit das Wesen der wundersamen Töpfe: Sie können nicht nur mit Menschen sprechen, sondern haben auch Namen und wissen Wünsche zu erfüllen.
Bei den Yatmül in Neuguinea gelten Kochtöpfe als Kinder der mythischen Ahnfrau Kolimangge, die einst den Menschen die Töpferei brachte. Kolimangge konnte dem Ton, den Töpfen und dem Brennmaterial befehlen sich zu bewegen. Die von ihr geformten Töpfe stiegen selbst aus dem Feuer und liefen zum Markt, um dort getauscht zu werden. Bis heute tragen die Töpfe der Yatmül Namen, und man modelliert ihnen Gesichter auf. So gibt jede Töpferin Kolimangge aufs Neue Gestalt. Nach ihrem ersten Geschlechtsverkehr verliert Kolimangge ihre besonderen Fähigkeiten. Töpfe müssen von den Frauen fortan mühselig selbst hergestellt werden. Kolimangge jedoch gebiert ein Mädchen und wird zur Mutter der Menschheit. Als sie stirbt, wird sie zu Ton.
Töpfe verwandeln rohe Feldfrüchte in gekochte Nahrung. Mehr noch: Wie im Bauch der Frau kann in ihnen auch Leben entstehen. Im russischen Märchen Snegurotschka wünscht sich ein Ehepaar sehnsüchtig ein Kind. Eines Tages im Winter legt der Mann einen Schneeball in einen Topf und lässt ihn bis zum Frühling auf der Fensterbank stehen. Als die Sonne den Topf erwärmt, piepst es darin, er hebt den Deckel auf und erblickt ein Mädchen. Schon lange hatte er sich eine Tochter gewünscht. In Märchen und Mythen werden Töpfe häufig mit dem Körper einer Frau verglichen. Tongefäßen als Metapher für den menschlichen Körper, der das Universum im kleinen versinnbildlicht, begegnet man auch in den Liedern der Baul, der fahrenden Sänger Westbengalens. Hippokrates setzte im alten Griechenland die auf einer Töpferscheibe gedrehten Formlinge für Krüge und Vasen mit den Menschen gleich, die so verschieden sind, obwohl das Leben sie aus dem gleichen Stoff formt. In Mythen von Amazonasindianern dienen Töpfe als Schutzräume für heranwachsende Kinder und Jugendliche. Sie symbolisieren den Ort, an dem etwas heranreifen kann. Die magische Kraft der Töpfe ist häufig auch Thema in der Bildenden Kunst von Amazonasindianern.
In vielen Gesellschaften gilt Ton als krafthaltiges, ja gefährliches Material. Ton stammt vom Flussufer, von Orten, wo gefährliche Geister leben. Ton in einen Topf verwandeln kann meistens nur derjenige, der auch mit Geistern sprechen und diese in Schach halten kann. Die Töpferei ist deshalb eine anspruchsvolle, ja magische Aufgabe, zu der viel mehr gehört als handwerkliches Geschick. Eine Töpferin muss Regeln einhalten, bestimmte Speisen meiden und darf keinen Sex haben.
„Beim Töpfern muss ich meinen Gedanken freien Lauf lassen“, pflegte die berühmte Shipibo-Töpferin Virgínia Maynas Piñón aus Peru zu Lebzeiten zu sagen. Sie meinte damit, dass ihre Gedanken frei sein müssen für ein Werk, das mehr als ein Topf ist. Wer ein Wesen herstellt, muss einen klaren Kopf haben.
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008