WO DIE RENTIERE DER ERDÖLINDUSTRIE WEICHEN MÜSSEN

Ein Expeditionsbericht

Von Vera Thümmel

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Der Chante Kolja beim täglichen Leeren seiner Fischreusen. Östliche Chanten, Nischnesortymskij, autonomer Bezirk der Chanten und Mansen. Foto: A. Sibeth

Wie sieht heute die ökonomische und soziale Situation der Chanten im autonomen Bezirk von Chanty-Mansijsk aus? Wie hat sie sich verändert im Vergleich zu 1935, als der deutsche Forscher Wolfgang Steinitz in Westsibirien forschte? Welche Auswirkungen auf die Lebensweise und Kultur der Chanten haben vor allem die Veränderungen seit den 90er-Jahren: die Industrialisierung, einhergehend mit der extensiven Erdöl- und Gasförderung auf ihrem Siedlungsgebiet, und die Umbrüche infolge der Perestrojka? Mit diesen Fragen brachen wir im Mai letzten Jahres in einem Team aus russischen und deutschen Forschern zu einer Forschung auf, die wir in mehreren Orten im Osten und Norden Westsibiriens durchführten. Wir, das sind unsere zwei sibirischen Kolleginnen vom Museum für Natur und Mensch, Larissa Andrijenko und Olga Jernichowa, die diese Expedition dank der Unterstützung der Direktorin des Museums, Frau Ljudmila Stepanowa, vorbereitet haben, und von deutscher Seite Achim Sibeth, Klaus Kupfer, der unsere Forschungsreise als Fotograf begleitete, und ich.

Kolja N. wohnt mit seiner Frau Anja und Tochter Nelja am Flüsschen Salma, das vom Pim abgeht, einem der unzähligen Nebenarme des Ob. Sie leben zweihundert Kilometer nordwestlich von Surgut nahe Nischnesortymskij. Kolja trägt ein verziertes Messer an seinem Gürtel, eine Patronentasche und ein einfaches Gewehr. „Hier kann man ab und zu einem Bären begegnen“, erklärt er, als wir uns kennen lernen. Die Patronen bastelt er selbst, die im Geschäft kann er sich nicht leisten. Er führt uns durch das Moor zu der Stelle des Flusses hinter seinem Haus, an der er gewöhnlich an einer schmalen Brücke seine Fischreuse befestigt und wo ihn vor zehn Tagen ein Bär überraschte. Plötzlich verschwindet Kolja. Es fällt ein Schuss. Er kommt zurück mit einer Ente.

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Koljas Mutter beim Präparieren eines Bärenschädels. Hirn und Fleisch wurden entfernt, die Hohlräume mit Sägespänen ausgestopft. Östliche Chanten, Nischnesortymskij, autonomer Bezirk der Chanten und Mansen. Foto: A. Sibeth

Einen Bären hätte Kolja allenfalls geschossen, wenn dieser ihn angegriffen hätte. Denn der Bär wird bei den Chanten wie bei den meisten sibirischen Völkern aufgrund seiner Stärke, Cleverness und Größe verehrt und gefürchtet zugleich. Wenn die östlichen Chanten einen Bären töten, werden ihm drei Tage Opferungen dargebracht, um sich mit dem Geist des Bären wieder auszusöhnen. Sein Kopf wird an der Wand gegenüber dem Hauseingang aufbewahrt. Es heißt, er hält Schlechtes vom Haus und seinen Bewohnern fern. Der deutsche Forscher Wolfgang Steinitz, der 1935, in einer höchst brisanten politischen Zeit, als einer der letzten ausländischen Wissenschaftler vor dem Krieg eine Expedition nach Westsibirien unternahm, beschreibt ausführlich Tänze, Lieder und Gedichte, die damals bei einem Bärenfest nicht fehlen durften.

„Wie der erste Mensch, so wurde auch der erste Bär einst in einer Wiege aus dem Himmel herabgelassen. Doch weil er auf Gott Torum nicht hörte, der ihm verbot, feindlich zu den Menschen zu sein, muss der Bär seitdem auf der Erde leben.“ heißt es in einer der Legenden. Wolfgang Steinitz war Volkskundler, Germanist, Finnougrist und gilt als der bekannteste Chantenforscher des 20. Jahrhunderts. Bis heute erinnern sich im fernen Westsibirien Nachfahren der von ihm befragten Chanten an ihn. Die berühmten Bärenfeste, wie sie Steinitz noch miterlebte, sind allerdings heutzutage eine Rarität geworden. Bei den östlichen wie bei den nördlichen Chanten ist aufgrund der Öl- und Gaswirtschaft insbesondere seit den 90er Jahren und des Fellexports während der Sowjetzeit ein starker Rückgang des Bärenbestandes zu verzeichnen.

Jedoch um ein Vielfaches gefährlicher als der Bär sind ganz andere fremde Gäste im Land der Chanten. Es sind die Tag und Nacht brennenden und rauchenden Ölbohrtürme. Über die Hälfte des Erdöls Russlands wird heute im autonomen Bezirk der Chanten und Mansen gefördert, der mit 535.000 km² knapp so groß wie Frankreich ist. Seitdem der geologische Vortrupp für die Erdölgesellschaft Surgutneftegas auf dem Land von Koljas Familie 1997 zum ersten Mal Versuchsbohrungen unternahm, hinterließen diese nicht nur viel Müll und Dreck. „Viele von uns haben seitdem Magen- und Blasenschmerzen.“ Bis heute ernähren sich die Chanten, die auf einem traditionellen Wohnsitz (Stojbischtsche) leben, primär von Fischen und Beeren. Doch „durch die unterirdischen Explosionen und Bohrungen sind weniger Fische in unserm Fluss als früher. Wenn der Schnee taut, sieht man die schwarze Ölschicht und das gelbliche Wasser besonders deutlich.“

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Anna Petrowna N. zeigt das Geweih eines ihrer letzten Rentiere. Östliche Chanten, Nischnesortymskij, autonomer Bezirk der Chanten und Mansen. Foto. K. Kupfer

Bei der städtischen Verwaltung von Nishnesortymskij gibt es einen Ansprechpartner für die indigene Bevölkerung, aber lediglich in Renten-, Bildungs- und Wohnungsangelegenheiten. Bei der Erdölgesellschaft Surgutneftegas ist seit 1992 eine Stelle für einen „Ingenieur für die Belange der indigenen Bevölkerung“ geschaffen worden. „Wir verfügen über modernste Technik“, versichert uns der Ingenieur. In der Nähe von Koljas Familie kam es vor einigen Jahren zu einer Havarie, bei der Erdöl ausfloss. Die Ölleute seien erst sehr viel später gekommen, und Entschädigung erhielt die Familie keine, so beschreibt Kolja den Vorfall. Ob es in den letzten Jahren besser geworden ist? „Es passiert vielleicht weniger, aber es ist schon so viel passiert, so viele Flüsse sind verschmutzt.“ Sauberes Wasser, das es, wie man meinen würde, in Hülle und Fülle in der westsibirischen Tiefebene gibt, wird mehr und mehr zu einem raren Gut.

Durch die Öllecks der 90er-Jahre treten immer wieder großflächige Brände auf, denen Wald, Wohnhäuser der Chanten und Tiere zum Opfer fallen. „Voriges Jahr ist unser letztes Rentier gestorben: am ‚Dreck’ “, so Anna Petrowna N., die Mutter von Kolja, über die Erdölverschmutzung. „Es ist einsam geworden ohne die Rentiere“, sagt Kolja leise und wendet seinen Blick ab. Rentiere dienen den Chanten wie den anderen „kleinen Völkern Sibiriens“ als Transporttiere, nur im Notfall und für Opferhandlungen werden sie geschlachtet. Ihr Fell ist bei den harschen klimatischen Bedingungen bei minus 40 Grad geradezu unentbehrlich. Doch durch den Bau von Trassen und Ölbohrtürmen sind innerhalb der letzten 20-30 Jahre jahrtausendealte Migrationswege der Rene zerstört worden. 1964 wurden noch 70.800 Rentiere, 1998 nur noch 32.300 Rentiere gezählt.

Im Zuge der, in den 30er-Jahren einsetzenden Maßnahmen zur Kollektivierung und Festansiedlung und zum anderen aufgrund der Dorfvergrößerungsmaßnahmen von 1950-60 lebt die überwiegende Mehrheit der indigenen Bevölkerung in großen Dörfern. Nur noch ein kleiner Teil bevorzugt traditionelle Wohnstätten wie die Familie von Kolja. Der Anteil der Chanten, die in traditionellen Arbeitszweigen wie Fischfang, Rentierzucht und Jagd beschäftigt sind, ist seitdem stetig zurückgegangen. Einige Chanten, insbesondere im Norden des autonomen Bezirks, wohnen in Städten wie Chanty-Mansijsk, Surgut oder Berjosowo. Chanty-Mansijsk und Surgut sind heute reiche Industrie- und Bankstädte, in denen allerdings die indigene Bevölkerung kaum das Stadtbild bestimmt. Aufgrund der niedrigen Qualifikation sind für Angehörige der Chanten und Mansen in den Städten nur wenige und lediglich niedrig bezahlte Arbeitsplätze zu haben. Viele von ihnen sind deshalb arbeitslos.

Mit der Ausbreitung und rasanten Intensivierung der Erdölförderung in den 80er- und 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts sind den Chanten und den anderen seit Jahrhunderten hier lebenden Völkern Westsibiriens durch die russische Industrie große Landflächen genommen worden. Nach langjährigem Protest erkämpfte sich die Urbevölkerung Mitte der 90er-Jahre das Recht auf Nutzung der Taiga und Tundra für die Sicherung ihres Lebensunterhaltes, zu dem auch das Weiden ihrer Rentiere gehört. Allerdings existiert bis heute kein Gesetz, dass das Eigentum an Grund und Boden der indigenen Bevölkerung festschreibt. Die Erdölfirmen besitzen Lizenzen und somit weiterhin das Recht auf Erdölförderung.

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Haus von Kolja N. und seiner Familie, im Fluss davor eine korridierte Öltonne. Östliche Chanten, Nischnesortymskij, autonomer Bezirk der Chanten und Mansen. Foto: K. Kupfer

„Seit Mitte der 90er-Jahre “, so der Mitarbeiter für die Belange der indigenen Bevölkerung bei Surgutneftegas, „erhalten die Familien der Höfe, auf denen Erdöl gefördert wird, regelmäßig Kompensationszahlungen für die Nutzung ihres Bodens sowie Burane (Schneemobile), Motorsägen, Boote und Benzin.“ Das sind 2150 Rubel (65-70 €) pro Quartal pro Erwachsenen - ein Hohn, verglichen mit den Milliarden an Ölprofit von Surgutneftegas, der sich heute als zweitgrößter Erdölmagnat Westsibiriens noch vor dem (ehemaligen) Yukos präsentiert. „Einmal auf den Markt gehen und die Hälfte des Geldes ist weg“, so Kolja. Sie kaufen nur das Nötigste: Kartoffeln, Zwiebeln Zucker, Salz, manchmal Karotten. Warum sie den Vertrag unterschrieben haben, der der Erdölfirma das Recht zu Erdölbohrungen auf ihrem Land gibt? Sie haben ihn lange nicht unterzeichnen wollen, sagt Koljas Mutter, die Erdölfirma kam aber immer wieder, und der für sie Zuständige bei Surgutneftegas hat sie bei den Verhandlungen nicht in ihrem Sinne unterstützt. Letzten Endes haben sie dann doch unterschrieben. „Wenigstens bekommen wir etwas Geld. Seit der Perestrojka ist doch alles sehr teuer geworden.“ Aber einige Russen, die heute die Mehrheit zusammen mit Angehörigen anderer zugereister Nationalitäten im autonomen Bezirk der Chanten und Mansen bilden, neiden den Chanten selbst diese symbolische Entschädigung und werfen ihnen vor, dass sie nicht arbeiten und sich nicht der neuen Zeit anpassen wollen. Das hiesige Fischereikombinat ist wie die meisten aller Betriebe Bankrott gegangen. Früher während der Sowjetzeit garantierte es der indigenen Bevölkerung ein bescheidenes Einkommen und einen gesicherten Fischabsatz. Heute müssen die Chanten lange Transportwege in Kauf nehmen und sind dabei stets unsicher, ob sie ihren Fisch auf dem Markt loswerden.

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Erdölpumpen der Ölgesellschaft Surgutneftegas, Surguter Kreis, autonomer Bezirk der Chanten und Mansen. Foto: K. Kupfer

Mit über 3.100 registrierten Havarien raste Westsibirien Mitte der 90er-Jahre einer ökologischen Katastrophe entgegen. Aber eine starke Protestbewegung unter der indigenen Bevölkerung schaffte es, neue Rechte und Gesetze sowie eine Vertretung in der staatlichen Duma und der Duma des autonomen Bezirks durchzusetzen und damit die Tragödie abzuwenden. Die Regierung des autonomen Bezirks und die Erdölfirmen investieren seit den 90er-Jahren zunehmend in die Verbesserung der Öl- und Gasförderungsmethoden und in die Unterstützung der traditionellen Arbeitszweige der indigenen Bevölkerung. Doch die neu gegründeten nationalen Gemeinschaften zum Fischfang können das Überleben nicht wie vormals absichern. Allein die in russischer Hand liegende Erdölwirtschaft bringt hohe Profite. „Wir müssen endlich das Recht auf Selbstbestimmung und eine Beteiligung an den Einnahmen der Erdölfirmen erhalten“, betont Artjom, Koljas Bruder. Er wollte ursprünglich Jura studieren, um den Seinen – den Chanten – zu helfen, ihre Rechte zu verteidigen. Doch dann brauchte die Mutter Unterstützung, und er ging nach der 9. Klasse von der Schule ab, um der Mutter auf dem Stojbischtsche auszuhelfen. Artjom arbeitet außerdem als Wächter bei den Ölpumpanlagen, sonst würde das Geld für die Familie nicht reichen.

Die sechsjährige Nelja, die Tochter von Kolja und Anja, wird ab diesem Jahr in die Internatsschule nach Nischnesortymskij gehen. Das Internat existiert noch nicht lange, denn Nischnesortymskij ist eine typische Erdölarbeitersiedlung, bestehend aus Wohnbaracken und Kantinen. Im Internat wird dieses Jahr die erste chantische Schülerin die Schule nach der 9. Klasse fortsetzen und danach studieren. Vielleicht wird auch Nelja einmal studieren und dazu beitragen, das Land der Chanten bekannter zu machen. Oder wird sie vielleicht das Leben mit und in der Natur fortsetzen und nicht in die Baracken von Nischnesortymskij ziehen, in denen viele der chantischen Bewohner wegen Arbeitslosigkeit und Vorurteilen, wegen Verlust an Identität und Selbstbestimmung zur Flasche greifen?

Seit den 30er-Jahren bis zur Perestrojka wurden die sibirischen Völker als rückständig betrachtet. Die Tagebuchaufzeichnungen von Steinitz, die Kritik durchschimmern lassen - soweit es ihm möglich war angesichts der Tatsache, dass sein Material bei seiner Ausreise aus der Sowjetunion genauestens geprüft wurde - belegen, dass kulturelle und religiöse Vorurteile gegenüber der indigenen Bevölkerung existierten und auch Widerstand auslösten. Ein nach der Perestrojka errichtetes Denkmal in Berjosowo erinnert an den Kasymer Aufstand. Die beiden Museen "Museum für Mensch und Natur" und das "Museum für Erdöl und Gas" in Chanty-Mansijsk widmeten sich vor kurzem sehr kritisch dem Thema des Widerstandes in ihren Ausstellungen – Ausdruck der neuen Politik der Erdölindustrie und der städtischen Administration seit den 90er-Jahren. Nun – endlich, möchte man sagen, denn diese einzigartigen indigenen Kulturen mit ihrem jahrhundertealten Wissen sind fast schon untergegangen - werden sie wieder gefördert und die schamanische Kosmologie, die sich durch eine enge Verbindung mit der Natur auszeichnet, wird als Identitätsstifter und Kulturerbe „neu“ entdeckt. Seitdem werden Kulturzentren und Museen eröffnet, Kulturfestivals und internationale Forschungsprojekte finanziert. Dazu gehört auch dieses gemeinsame deutsch-russische Feldforschungsprojekt, das erste seit vielen Jahren.

Aus dieser gemeinsamen deutsch-russischen Expedition entstand die Idee einer internationalen Konferenz, die diesen September in Chanty-Mansijsk mit dem Titel "Drei Jahrhunderte wissenschaftlicher Erforschung der Jugra (Westsibirien): von Müller bis Steinitz" pünktlich zum Jubiläumsjahr dieser großen deutschen Forscher stattgefunden hat. Sie war verbunden mit einer Dampferfahrt, die den Spuren der deutschen Forscher in Westsibirien gefolgt ist.

Siehe auch Artikel von Achim Sibeth: Westsibirien heute


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008