VON PÉNDÉT BIS CIAO CIAO

Immaterielles Kulturerbe in Deutschland

Von Anette Rein

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Übergabe von Opfern in Asak/Bali. Foto: A. Rein

Wenn EthnologInnen in fremden Kulturen forschen, gehören ihre Arbeitsergebnisse dann der eigenen oder der fremden Kultur? Sind sie Teil des immateriellen Erbes Deutschlands oder des erforschten Landes? Ich habe zum Beispiel für meine Dissertation an der Universität in Mainz zwei Jahre lang in den 1980er-Jahren auf Bali über Tempeltänze geforscht. Eine deutsche Institution – der DAAD - hatte mich finanziert, um in die Fremde zu gehen, dort Daten zu erheben, damit diese in einer Arbeit schriftlich fixiert in deutschen Bibliotheken bewahrt werden sollten. Auf deutschen Fachtagungen hielt ich viele Vorträge und lehrte auch an der Universität in Leipzig als Ethnologin über andere Kulturen.

Wenn dieses Interesse am Fremden, am kulturell Anderen so virulent ist, dass Hunderte von jungen Menschen sich professionell darin ausbilden lassen, in die Fremde gehen und nach ihrer Rückkehr dieses Wissen in Deutschland speichern und publizieren – ist es dann nicht auch Teil deutschen immateriellen Kulturerbes? Wessen Kulturerbe sollte es sonst sein?

Ein weiteres Beispiel zu dieser Überlegung sind die Sammlungen und Archive an völkerkundlichen Museen. Sie werden finanziert von deutschen Institutionen und haben als städtische, regionale oder Landesmuseen den Auftrag, internationales historisches oder zeitgenössisches Kulturgut zu sammeln, zu bewahren, auszustellen und vor allem das Wissen im Kontext zu den gesammelten Objekten einem breiten Publikum zu vermitteln. Sowohl die Objekte als auch das Wissen über sie sind meiner Meinung nach auch Teil unseres materiellen und immateriellen Kulturerbes in und aus Deutschland.

Kriterien dafür, was als bewahrenswertes immaterielles Kulturerbe gelten könnte und was nicht, haben andere Gesellschaften schon längst für sich entwickelt. So gibt es zum Beispiel seit 1950 in Japan, seit 1992 auf den Philippinen und seit 1994 in Korea (Rumänien und Frankreich machen auch schon mit) Programme zum Erhalt immateriellen Kulturerbes, in welchen sogar lebende Menschen als Repräsentanten für spezifische Traditionen gelten und als „living human treasures“ lebenslang als VermittlerInnen traditionellen Wissens gefördert werden.

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Tempeltanz "rejang daa" in Asak/Bali. Foto: A. Rein

In Indonesien fasst der Begriff pusaka sowohl das materielle als auch das immaterielle Kulturerbe zusammen. Das Konzept pusaka ist in fast allen Kulturen Indonesiens geläufig, und in den Familien der Bauern in den Dörfern oder beim Adel in den Palästen werden Objekte oder besonderes Wissen an speziellen Orten – oft ist es der Reisspeicher – aufbewahrt und gepflegt. Diese besondere Hege des Kulturerbes rührt daher, dass es als mit spiritueller Energie der Ahnen geladen und damit auch als den Lebenden Energie spendend gesehen und erlebt wird.

Es ist nicht die Frage nach der Herkunft eines Objekts (wie Textilien, Keramiken, Juwelen, Waffen, Land, Häuser) oder einer Inszenierung (wie Lieder, Tänze oder eine Geschichte), die dieses als pusaka qualifiziert. Neben indigenen Produkten finden sich unter den pusaka auch viele Objekte internationaler Herkunft, wie chinesische Keramiken, europäische Handelsgüter und Waffen, die von Individuen, Familien oder Gruppen durch Handel erworben, im Krieg geraubt, als Geschenk oder als Heiratsgut in den Besitz eines Individuums oder einer Gruppe kamen.

Neben historischen Objekten wurden in neuerer Zeit auch nationale Symbole Indonesiens als pusaka anerkannt, zum Beispiel das populäre nationale Lied „Tanah Air Tanah Pusaka“ wobei „Tanah Air“ (Land und Wasser) als Idiom für den indonesischen Archipel steht.

Theoretisch kann alles ein pusaka werden – aber nicht alles, was geerbt wird. Der soziale Kontext seines Gebrauchs entscheidet darüber, ob etwas über Generationen hinweg mit besonderer Beachtung und Respekt gewürdigt wird. Objekte oder Symbole werden erst zu pusaka durch qualifizierende Zuschreibungen von Individuen oder Gruppen, die sie besitzen, und darüber werden sie von der Gemeinschaft anerkannt. Aber auch die Gesellschaft kann entscheiden, welchen Objekten oder Ereignissen sie Bedeutung verleiht – unabhängig davon, wer diese im Einzelnen besitzt. In traditionellen Gesellschaften kann man zum Beispiel auch Rechte an einem Ritual oder an einer Inszenierung besitzen.

Pusaka bezeichnet demnach das materielle und immaterielle Kulturerbe und ist eine soziale Konstruktion in Begriffen sozialer Beziehungen.

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Tempeltanz "abuang" in Asak/Bali. Foto: A. Rein

Übertragen auf die aktuelle Diskussion um das immaterielle Kulturerbe, weist uns das Konzept von pusaka auf wichtige Aspekte und Fragen in Hinblick auf eine Definition des Kulturerbes in und aus Deutschland hin. Die Herkunft sollte dabei keine ausschließende Rolle spielen, sondern es muss gefragt werden, welches immaterielle Kulturerbe Teil heutiger deutscher Identität in ihrer ganzen Vielfalt ist oder sein kann. Dies ist umso wichtiger, da Diskussionen über eine Leitkultur in Deutschland mit der geplanten Einführung eines Fragebogens im Kontext der Einwanderung wieder aktuell geworden sind. Kulturelle Neuschöpfungen müssen nicht immer an überlieferte Traditionen anknüpfen, sondern können diese auch konsequent infrage stellen. Ich denke dabei an den Tanz Walzer, der zur Zeit seines Auftauchens bei Hofe als revolutionär und bedrohlich für gesellschaftliche Regeln galt.

Des Weiteren braucht die Pflege und Weitergabe von oralem Wissen, zum Beispiel durch Inszenierungen, vor allem entsprechende offene Zeitbudgets, die sich nicht an Konzepten von Mobilität, Bürozeiten und Karriereplänen in einer Industriegesellschaft orientieren oder sich ihnen unterwerfen müssen. Das immaterielle Kulturerbe ist vor allem auch durch Imitation, individuelle Improvisation, Spontaneität und Variantenreichtum gekennzeichnet. Dies sind alles Qualitäten, die bei einer systematischen Organisation als Teil eines offiziellen Programms Gefahr laufen, verloren zu gehen und auf dem Status Quo der Erfassung „eingefroren“ zu werden.

Ich möchte dies am Bespiel von einigen – eher banal erscheinenden – alltäglichen Begrüßungsritualen in deutschen Landen näher illustrieren. Diese Rituale sind keine künstlerischen Meisterwerke, sondern „soziale Bräuche“, die „periodisch wiederkehrend zu den Ausdrucks- und Darstellungsformen“ gehören. Sie entstammen teilweise alten Traditionen, sind unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen verpflichtet und werden zugleich in der alltäglichen Lebenspraxis ständig variiert. Trotz des Versuchs einer Verschriftlichung in Form des "Knigges" oder aufwendiger Protokollvorschriften steht jedem Individuum bei der Umsetzung eine Reihe von Variablen zur Verfügung, die es je nach aktuellem Kontext frei wählen kann. Die Formen einer Begrüßung zum Beispiel unterliegen offiziellen gesellschaftlichen Normen, die zum verfügbaren oralen Wissen einer Gemeinschaft gehören und sowohl individuell als auch kollektiv praktiziert werden.

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Tempeltanz "péndét" in Asak/Bali. Foto: A. Rein

Die folgenden Beispiele verdeutlichen die vielfältige transkulturelle Verwobenheit mittels importierter Zitate oder Re-Inszenierungen und die daraus resultierenden Handlungsformen – die uns im Alltag selbstverständlich als Teil „deutscher Lebenspraxis“ erscheinen.
Zunächst wären da die Grußformen über eine größere Distanz: leichtes Hochziehen der Augenbrauen mit gegenseitigem kurzem Fixieren, wobei derjenige, der die Augenbraue hochzieht, im Allgemeinen flirten, seinen überlegenen Status oder eine kritische Distanz kundtun will.
Wir kennen das Zuzwinkern oder den Augengruß: ein kurzes Hochziehen beider Augenbrauen, verbunden mit Aufreißen der Augen und dem Nachhintenwerfen des Kopfes. Dieser Gruß ist aus Indonesien gut bekannt und wird von Reisenden oft eine Zeit lang auch hier praktiziert, was aber leicht zu Missverständnissen führen kann (= flirten).
Zuwinken oder zugeworfene Küsse verkürzen die Distanz und sollen eine persönliche Beziehung kennzeichnen.
Bevor Begrüßungen mit direktem Körperkontakt stattfinden, kennen wir noch die knappe Verbeugung (von Männern). Frauen antworten darauf mit einem leichten Nicken des Kopfes. Oder das freundliche „Hi“ beider Geschlechter, welches vor allem im Alltag, zum Beispiel am Arbeitsplatz, bevorzugt verwendet wird.
Der aus der adeligen europäischen Tradition stammende Handkuss (vom Mann einer Frau gegeben) kommt (ohne Kratzfuß) wieder in Mode, dagegen ist der weibliche (Hof-)Knicks aus dem Alltag völlig verschwunden.
Das Händeschütteln hat vor allem mit der rechten Hand zu erfolgen, da die linke Hand „nur von Herzen kommt“. Manche legen auch die rechte Hand nach dem Schütteln auf die linke Herzensregion; eine Geste, die sie sogleich als Mitglieder anderer Religionen kennzeichnet (Hindus oder Moslems). Beim Händeschütteln erkennt man auch unterschiedliche Traditionen zwischen West- und Ostdeutschland. Während der Westen mit Vorliebe dem „Hi“ frönt, ist das Händeschütteln im Osten immer noch die anerkannte tägliche Begrüßungsform in allen Lebenslagen.

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In der Familie vererbte Kris werden einmal im Jahr gereinigt und geweiht. Foto: A. Rein

Kussformen auf Wangen sind vielfältig und unterliegen unterschiedlichsten traditionellen Ursprüngen. Sie werden in der alltäglichen deutschen Lebenspraxis je nach Laune oder situationsabhängig wahlweise alle praktiziert. Dabei ist diese Form der Begrüßung nicht geschlechtsspezifisch. Wir kennen einen Kuss auf eine Wange (deutsch?), je ein Küsschen auf beide Wangen (französisch?) und ein drittes Küsschen noch einmal auf die erste Wange (schweizerisch? italienisch? französisch? russisch?). Küssen ist auch nicht statusgebunden, sondern diese Form der Begrüßung ist „frei“ und kann je nach Situation gewählt oder abgelehnt werden – wobei eine Abwehr eindeutige Botschaften der sozialen Ablehnung beinhalten kann.

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Kris-Reinigung. Foto: A. Rein

Begrüßungen können sowohl im Stehen als auch im Sitzen erfolgen. Männer sollten jedoch immer aufstehen – während Frauen sitzen bleiben dürfen. Darüber hinaus sollten Jüngere sich vor den Älteren erheben. Alle bleiben beim Vereinsgruß sitzen, wenn der oder die Neuangekommene als Begrüßung nur auf den Tisch klopft. Eine Geste mit Lauterzeugung, welche mich stark an die rituelle Vertreibung von bösen Geistern erinnert. Noch komplizierter wird es bei der Frage, wer grüßt wen zuerst und wer stellt wen vor. Wie lange wird eine Hand geschüttelt – wem darf man diese Berührung konsequenzlos verweigern?

Diese scheinbar so einfachen und alltäglichen Umgangsformen gehören auch zum immateriellen Kulturerbe und werden unter anderem bestimmt von Fragen nach Alter, Abstammung und Geschlecht. Trotz des Versuchs, Umgangsformen in einem „Knigge“ festzulegen, ist alles im Fluss und wird vor allem von den nachfolgenden Generationen zeitgemäßen Bedürfnissen angepasst. Auch kulturelle Hegemonien ändern sich im Laufe der Zeit und beeinflussen (wie wir es am US-amerikanischen „Hi“ täglich erleben) nachdrücklich ehemals scheinbar „eingefleischte deutsche“ Traditionen.

Ich schlage vor, nicht nach einer geographischen, historischen oder nationalen Herkunft oder nach der Authentizität von Traditionen zu fragen. Es geht vielmehr darum, Kriterien zu entwickeln, nach denen praktiziertes immaterielles Kulturerbe in unserer Gesellschaft als dynamischer Teil der Identität von Individuen oder Gruppen anerkannt wird, dafür bewahrt und in seiner ganzen Prozesshaftigkeit weiter praktiziert und gefördert werden soll.

Nun bleibt mir nur noch ein Ciao Ciao!

Dieser Beitrag wurde als Impulsbeitrag zum Thema „Perspektiven immateriellen Kulturerbes in und aus Deutschland“ auf der Fachtagung zur deutschen Mitarbeit am UNESCO-Programm zum Schutz des immateriellen Kulturerbes am Gustav-Stresemann-Institut Bonn vom 2.-3. Februar 2006 gehalten.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008