Von Stéphane Voell
Was hat Ethnologie mit Globalisierung zu tun? Globalisierung wird verbunden mit weltweitem Kapital- und Wirtschaftsverkehr, der Schwächung von Nationalstaaten und der Erstarkung von Zivilgesellschaft. Globalisierung erscheint als weltumspannende, alle Menschen erreichende Vernetzung. Globalisierung wird auch als kultureller Homogenisierungsprozess so genannte „westlicher“ Werte und Vorstellungen gesehen.
Was kann die Ethnologie beitragen zur Erforschung und Beschreibung dieser Makroprozesse? Was können Ethnologen der Erklärung von Globalisierung hinzufügen? – Die Antwort ist einfach: Globalisierung ist eine Paradebeispiel für ethnologische Forschung.
Die Ethnologie ist die ideale Wissenschaft um zu verstehen, wie Globalisierung gelebt wird. Globalisierung ist keine Einbahnstraße in der Menschen weltweit bereitwillig transnational verbreitete Wirtschafts- und Kulturgüter übernehmen und dabei ihren eigenen kulturellen Hintergrund rasch vergessen. Jonathan Xavier Inda und Renato Rosaldo schreiben, dass Kultur im Globalisierungsprozess aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang herausgelöst ( deterritorialized ) und an einem anderen Ort „wiedereingeschrieben“ wird ( reterritorialized ). Über internationale Akteure verbreitete materielle und immaterielle Güter werden im lokalen Kontext interpretiert und verwendet. Ethnologie erforscht diese lokalen Wirklichkeiten und strebt nach dem Verständnis der internen Logik fremder Gesellschaften.
Am Beispiel Nordalbaniens will ich zeigen wie transnationale Prozesse lokal ihre eigene Dynamik entwickeln. Es geht darum, wie NGO’s und lokale Konfliktvermittler die international erwünschte außergerichtliche Konfliktvermittlung in Albanien interpretieren und wie deren Arbeit zu einer Revitalisierung von Tradition führt.
Globalisierung besteht nach Inda und Rosaldo in der Beschleunigung des Umlaufs („ flow“ ) von Kapital, Menschen, Gütern, Bildern und Ideen um die Welt. Globalisierung ist die Verstärkung von Verbindungen, wechselseitiger Beeinflussung und jener „ “, die Personen und Gruppen in der Welt verbinden. Sie ist aber auch eine Ausdehnung von sozialen, kulturellen, politischen und ökonomischen Praktiken über Grenzen hinweg. Globalisierung meint aber ebenso die zunehmende Verflechtung globaler und lokaler Prozesse.
Recht ist ein wichtiger Bestandteil der Globalisierung. Nach Keebet von Benda-Beckmann gibt es unterschiedliche Dimensionen transnationaler rechtlicher Prozesse, die eine zunehmende Vereinheitlichung von Recht in der Welt suggerieren. Neben der Globalisierung materiellem Rechts (wie die Menschenrechte) oder international operierenden Organisationen (Weltbank, Währungsfond) und ihrer Regeln ist die Förderung der alternativen, außergerichtlichen Beilegung von Rechtstreitigkeiten (Alternative Dispute Resolution, ADR) ein bedeutender weltweiter Prozess. ADR ist vielerorts erfolgreich und politisch gewünscht, nicht nur weil es die Arbeitslast und die Kosten der Justiz verringert, sondern auch weil ein lokales Rechtsempfinden jenseits staatlicher Strukturen gefördert werden soll. Beispielsweise ist in den Assoziierungsprozessen der EU mit ihren Nachbarstaaten das Zulassen von ADR ein wichtiger Verhandlungsgegenstand. Doch wie wird ADR vor Ort wirklich praktiziert? Die Ethnologie analysiert diese lokale Praxis globaler Prozesse.
Ethnologische Forschung („Feldforschung“) bedeutet in der Regel eine mehrmonatige Langzeitforschung am Ort des Geschehens, das heißt in der fremden Gesellschaft. Die Ethnologin oder der Ethnologe arbeitet meist alleine oder in Kleingruppen mit qualitativen und nur wenig vorstrukturierte Methoden. Der Idealfall dieser so genannten „Teilnehmenden Beobachtung“ ist ein gewisses Zusammenleben mit der Lokalbevölkerung, um die „emische“ Sichtweise auf den Untersuchungsgegenstand herausarbeiten zu können, das heißt herauszufinden wie die Menschen vor Ort denken und handeln. Die Ethnologie der Globalisierung untersucht die Globalisierungsprozesse in der lokalen Wirklichkeit einer bestimmten Gesellschaft. Es geht darum wie und warum Menschen globalisierte Güter annehmen und wie sie vor Ort interpretiert und benutzt werden.
Meine mehrmonatige Feldforschung führte mich ins postsozialistische Albanien. Ich forschte zum Thema Gewohnheitsrecht. Seit dem 19. Jahrhundert ist das Gewohnheitsrecht und die Blutrache ein prominentes Thema in wissenschaftlichen Abhandlungen, Reisebeschreibungen und Romanen. Auch nach dem Fall des Sozialismus 1990 blieb das Thema aktuell. Forscher zeigten, dass das mündlich überlieferte Gewohnheitsrecht, der „Kanun“, mit seinen Regeln zur patriarchalen Familienstruktur, Ehre, Gastfreundschaft oder Blutrache weiter relevant bleibt. Das heißt nicht, dass Nordalbanien ein isoliertes Fleckchen Erde ist, in dem der Kanun das Maß aller Dinge ist. Das Fundament des Gewohnheitsrechts, die patriarchale Großfamilie, ist seit Jahrzehnten am Zerfallen. Der Kanun ist ein normativer Referenzrahmen neben anderen (wie staatliches und internationales Recht oder verbliebene Gewohnheiten aus dem Sozialismus). Der Kanun verdankt der globalisierten Welt jedoch auch seine fortdauernde Beständigkeit. Die international gewünschte und (finanziell) geförderte außergerichtliche Konfliktvermittlung in festgelegten Grenzen trifft auf die lokale nordalbanische Tradition der gewohnheitsrechtlichen Konfliktvermittlung und scheint diese – und damit die Vorstellung des Kanuns selbst – wiederzuerwecken.
Viele Konflikte können in Nordalbanien außergerichtlich gelöst werden. Meistens handelt es sich hier um Streitigkeiten um Land, Diebstahl, Erbschaften oder Familienkonflikte. „Nach dem Kanun“ ist der erste Ansprechpartner im Dorf ein Ältester. Der Ausspruch „nach dem Kanun“ verweist aber nicht auf konkrete Regeln, sondern heißt eigentlich nur, dass man das Problem unter sich mit der Hilfe von Ältesten lösen will. Älteste sind erfahrene und respektierte Männer mit besonderem Charisma, die einen guten Ruf haben, in Konfliktfällen neutral schlichten zu können. Älteste versuchen zwischen beiden Konfliktparteien zu vermitteln. Möglicherweise war vor vielen Jahrzehnten eine abgeschlossene Vermittlung von Ältesten eine dauerhafte Angelegenheit. Heutzutage ist der Kanun zwar wichtig, aber die Ältesten haben nicht mehr die Autorität im Dorf, die sie früher genossen. Vielfach werden sie einfach ignoriert. Konflikte können auch über die staatlichen Kanäle, die Kirche oder auch durch Selbstjustiz eigenmächtig beendet werden. Doch die Ältesten haben Unterstützung bekommen und scheinen dadurch eine zunehmend wichtigere Rolle zu spielen. Ihre Unterstützer, auch wenn sie das selbst nicht so sehen, sind NGO’s im Bereich der Konfliktvermittlung, die die Ältesten für die Arbeit der Organisation vor Ort anwerben.
Das Gesetz „Zur Vermittlung und Versöhnung von Konflikten“ ist in Albanien seit März 1999 in Kraft. Es stellt den gesetzlichen Rahmen für außergerichtliche Konfliktlösungen dar. Mediatoren von staatlich anerkannten NGO’s vermitteln bei Streitigkeiten zwischen Privatpersonen. Ziel ist eine einvernehmliche Beilegung der Streitigkeiten im Einklang mit bestehenden Gesetzen und der „guten Sitten“. Die Streitigkeiten sollen dergestalt vermittelt werden, dass der Konflikt nicht vor Gericht ausgetragen werden muss, was zu einer tiefgreifenden sozialen Störung im Umfeld der beteiligten Parteien führen könnte. Das Gesetz erlaubt den NGO’s in all jenen Konfliktfällen zu vermitteln, für die nicht ausdrücklich das Gericht einspringen muss.
Die NGO’s sind häufig überregionale Organisationen mit ihrer Zentrale in der Hauptstadt Tirana. In den einzelnen Regionen des Landes haben sie kleine Büros und Mediatoren, die die eigentlich Arbeit der Organisation - das Vermitteln von Konflikten - vorantreiben. Die Arbeit der Mediatoren vor Ort ist gesetzlich nicht besonders reglementiert. Es passiert nur selten, dass Menschen mit ihren Problemen direkt in die Büros der Organisation kommen. Man zeigt es nicht gerne öffentlich, dass man ein Problem hat. Der Kontakt wird über Bekannte, die gezielt Vermittler ansprechen, hergestellt oder die verstreut lebenden Mediatoren suchen selbst die Verbindung. Am Ende der Vermittlung gibt es eine gemeinsame schriftliche Erklärung. Hier werden die Eckdaten des Konfliktes, die verschiedenen Standpunkte und die gemeinsame abschließende Vereinbarung festgehalten. Diese wird von den Konfliktparteien und auch von den Vermittlern unterschrieben. Das Dokument wird bei Gericht eingereicht damit es darüber informiert ist, wie zum Beispiel Grundstücksstreitigkeiten ausgegangen sind.
Der Kanun und die NGO’s begegnen sich in Nordalbanien über diese Mediatoren. Die NGO’s versuchen, bereits in der Konfliktmediation arbeitende Älteste für sich zu rekrutieren. Dabei geht es nicht direkt um Geld. Die Mediatoren arbeiten in der Regel ehrenamtlich. Es geht eher um Prestige: Die Einbindung lokal erfolgreicher Konfliktvermittler in die Organisation erspart die lange Suche nach einem Vermittler und führt auch dazu, dass der gute Ruf eines Ältesten, den er wegen guter Konfliktlösungen erreicht hat, auf die Organisationen zurückfällt. Da die außergerichtliche Konfliktvermittlung ein sehr offener Prozess ist, kollidiert sie auch nicht mit der Praxis des Kanuns, die eigentlich das Fundament des Handelns des Ältesten ist.
Aber auch für die Ältesten ist die Zusammenarbeit mit überregionalen, staatlich anerkannten NGO’s eine Gewinn bringende Angelegenheit. Wie bereits angedeutet, ist der Kanun schon lange nicht mehr das Maß aller Dinge in Nordalbanien. Die Tradition bleibt weiterhin wichtig, aber wenn man sich bei der staatlichen Rechtsprechung einen günstigeren Ausgang für seine Angelegenheit ausrechnet, ignoriert man die traditionelle Vorgehensweise. Die Vermittlungsversuche der Ältesten werden zurückgewiesen, weil es Alternativen dazu gibt und „traditionelles Verhalten“ nicht erzwungen werden kann. Die alteingesessenen Clanstrukturen, die früher diese Macht hatten, sind heute brüchig oder existieren nur in der Wunschvorstellung. Nun erhalten die Ältesten über ihre Zusammenarbeit mit den NGO’s für Konfliktvermittlung einen offiziellen Status. Ihre Arbeit wird gewissermaßen staatlich legitimiert und ihre Stellung im Dorf wird herausgehoben und gefestigt. Mit Stolz verweisen die Mediatoren auf ihre Ausweise oder Visitenkarten der Vermittlungs-NGO’s.
Das nordalbanische Beispiel zeigt, wie transnationale Prozesse einerseits vereinheitlichend wirken. Weltweit wird ADR gefördert und die albanischen NGO’s arbeiten in diesem Bereich. Ihre Mitglieder werden auch von Experten aus dem Ausland geschult. Die NGO’s sind meist international vernetzt und diskutieren auf internationalen Tagungen die weitere Förderung von ADR. Andererseits gibt es spezifisch lokale Antworten auf die transnationalen Prozesse. In Nordalbanien führt die lokale Einführung von ADR zu einem Wiedererstarken traditioneller rechtlicher Strukturen. ADR gibt dem Kanun ein neues, staatlich anerkanntes Forum.
In diesem Beitrag habe ich bewusst das Thema Blutrache und die Arbeit der Vermittlungs-NGO’s in diesem Bereich ausgelassen. Auch muss darauf hingewiesen werden, dass die NGO’s in ihren Publikationen und Tagungen die Zusammenarbeit mit den Strukturen des Kanuns explizit ablehnen. Der Beitrag sollte vor allem illustrieren, dass zu einem vollen Verständnis der Globalisierung, die lokale Interpretation globaler Prozesse erforderlich ist. Die Ethnologie, mit ihrer langfristigen Feldforschung vor Ort, ist die ideale Wissenschaft, um der üblichen Makroperspektive auf transnationale Prozesse die Komplexität gelebter Globalisierung entgegenzuhalten.
Benda-Beckmann, Keebet von (2001): Transnational Dimensions of Legal Pluralism. In: Wolfgang Fikentscher (Hg.) Begegnung und Konflikt: kulturanthropologische Bestandsaufnahme. München: Bayerische Akademie der Wissenschaften. S. 195-214
Inda, Jonathan Xavier; Renato Rosaldo (2002): Introduction: A World in Motion. In: Jonathan Xavier Inda, Renato Rosaldo (Hg.): The Anthropology of Globalization. A Reader. Malden: Blackwell. S. 1-27
Dr. Stéphane Voell ist Mitarbeiter am Institut für Vergleichende Kulturforschung - Religionswissenschaft und Völkerkunde der Philipps-Universität Marburg; Forschungen in Albanien. Arbeit u.a. zu Revitalisierung von traditionellem Recht in postsozialistischen Gesellschaften.
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008