VOM KLASSIFIZIEREN, ZÄHLEN UND ABBILDEN.

Kolonialpraxis und ethnologische Begriffsbildung am Beispiel Indiens

Von Hans Voges

Vom Klassifizieren, Zählen und Abbilden 1
Foto: B. Högner

In jahrhundertealten Erfahrungen mit der indischen Kultur und Gesellschaft, wie sie von europäischen Beobachtern notiert worden sind, hat sich nach und nach ein Phänomen in den Vordergrund geschoben und ist schließlich im 19. Jahrhundert zu seiner vollen Blüte bei den Intellektuellen Europas aufgestiegen: das Kastenwesen. Es scheint heute noch so – beim Blick von außen auf Indien - als gäbe es nichts anderes, was für die indische Lebensform bemerkenswert sein könnte.

Bevor jedoch die Ethnologie als Produkt wie als Bestandteil des kolonialen Wissenssystems in Indien dingfest gemacht werden kann, musste erst einmal die europäische Expansion den indischen Subkontinent erreichen. Mit der endgültigen Festsetzung der Briten an den Küsten des Subkontinents und in dessen nordöstlichem Teil, in Bengalen (Schlacht bei Plassey 1757), mit der Eroberung der übrigen Gebiete des Mogulreiches werden die Voraussetzungen für die Etablierung eines kolonialen bürokratischen Systems gelegt. Vollbracht wird dies zunächst im Zeichen der Ostindischen Kompanie, unter Durchsetzung einer expansiven Handelshegemonie und gleichsam als Subunternehmer der Mogulherrscher mit militärischen und fiskalischen Vollmachten, bis dann in der Mitte des 19. Jahrhunderts (aus Anlass der so genannten großen Meuterei von 1857/58) die britische Krone den Kontinent in eigener Regie übernimmt; Queen Victoria wird Herrscherin von Indien.

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Die offizielle britische Herrschaft setzt nun in größerem Umfang das Werk fort, das unter der Ostindischen Kompanie begonnen wurde: den Handel dominieren und daraus Profit ziehen sowie Steuern, etwa aus landwirtschaftlichen Erträgen, eintreiben. Daraus folgt, dass Institutionen wie Judikative, Polizei und Militär aufgebaut werden müssen, die Recht, Ordnung und Frieden (natürlich im Sinne der Macht) bewahren und denen die entsprechenden Instrumente zur Verfügung stehen.

Zu dem Zweck, die hegemoniale Ordnung aufrechtzuerhalten und die Gleichgewichte innerhalb der indigenen Sozialstrukturen zu den eigenen Gunsten zu beeinflussen, muss die koloniale Bürokratie, salopp gesagt, über Land und Leute Bescheid wissen. Man muss zum Beispiel wissen, welche Ressourcen man wann, wo und wie ausbeuten kann; welche Partner – das heißt Personen, die in der Gesellschaft Einfluss haben - man ansprechen muss, um vorteilhafte Kontakte einzugehen; wie man mit ihnen verhandelt; wie man den Frieden erhält, indem man unter den Einheimischen Streit schlichtet (und damit einen Teil ihrer Rechtsphäre okkupiert).

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Foto: B. Högner

Machterhaltung, koloniale Kenntnisgewinnung, Kontrolle und "In-Wert-Setzung" von Land und Leuten gehen Hand in Hand. Zudem reißen sie Gräben auf zwischen Wissenden und Unwissenden, zwischen Herrschenden und Beherrschten. Um militärisch wie bürokratisch Überblick und Kontrolle zu behalten, muss das Land vermessen und kartographiert werden. Dadurch kommen wirtschaftliche und verkehrstechnische Nebeneffekte zustande: Straßen, Kanäle, Eisenbahnen werden gebaut. Um die auf dem bewohnbaren Erdkreis, dem Dorf und dem Land, das sie beackern, hausenden Menschen in ihrem Nutzen, ihrer Ergiebigkeit, einschätzen und entsprechend beuteln zu können, muss die unübersichtlich wimmelnde Menschenmenge zu einer Ressource namens Bevölkerung zusammengefasst werden. Nun kann man sie zählen und in bestimmte Schubladen nach sachlichen Tätigkeiten einteilen. Koloniale Erkenntnistechniken einzuführen, heißt die materiellen und humanen Ressourcen des Landes zu inventarisieren und vor allem seine Menschen als Bevölkerung zu quantifizieren und sie nach festgesetzten qualitativen Unterschieden (Status, Beruf, Religion, Geschlecht) klassifikatorisch zu erfassen. Dieselben Techniken, die es erlauben, die Leistungsfähigkeit und Vielfalt der Menschen abzuschätzen, gelten ebenso für die Produktivität des bestellbaren Landes. Außerdem muss seine Nutzungsform rechtlich festgelegt werden, denn es muss ja jemanden geben, den man zur Rechenschaft ziehen kann. Die Briten beginnen sehr früh damit, sich zum Zweck der Informationsgewinnung in die agrarischen und dörflichen Verhältnisse einzumischen.

Was hat nun diese koloniale Erkenntnis - die ein äußerlicher Blick auf die Menschen in ihrer Gesamtheit als anonyme Größe oder Aggregat ist - mit den Mitteln und der Vorgehensweise der Völkerkunde zu tun? Mit den bürokratisch-statistischen Techniken des Klassifizierens und Zählens wird die Welt sortiert, inhaltlich in nützliche und weniger nützliche Dinge abgestuft. Dadurch entsteht eine Art Vorstufe zum Überblick, den die Bürokratie benötigt. Der so präsente Inhalt der Welt muss sich vor den Augen der Bürokratie abbilden lassen. Grafische Abbildungsverfahren und standardisierte Texte fügen sich diesen Erfordernissen: Land und Leute werden ebenso gut sichtbar wie darstellbar in Form von Grafiken und Tabellen, Fotos und Berichten. Hier nun einige Formen der Abbildung, die historisch Konsequenzen zeitigen sollten:

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A) Die Survey-Methode (schon der Tropus "survey" läßt einen von der Vogelperspektive träumen); an sozialen Befunden orientiert, steht sie im Zentrum; um die Mitte des 19. Jahrhunderts von den Briten konzipiert, bringt sie um die Jahrhundertwende (=1900) ihre ersten Publikationen hervor, Handbücher oder Enzyklopädien, die häufig die Wendung "Tribes and Castes of ..." im Titel haben. Ihr Streben gilt der Totalität abrufbarer Informationen. - Ihre Vorläufer hat sie in den Expeditionen des Vermessens und Kartographierens, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts von leitenden Angestellten der East India Company in Gang gebracht wurden, zum Beispiel von Francis Buchanan und Colin Mackenzie (Letzterer war übrigens 1815 der erste Surveyor General of India). Hinzuweisen ist auch auf das Kartenwerk über "Hindoostan", das 1783 von James Rennell vorgelegt wird.

B) Eng verwandt mit den Surveys ist die Katastererhebung , die in der Absicht geschieht, die Produktivität der Agrarproduktion auszuloten und die Besteuerungsfähigkeit zu taxieren. Im Übrigen ist es der Zensus , die Statistik, die als umgreifende Erkenntnistechnik sowohl die Survey-Methode wie die Katastererhebung umfasst. In Anbetracht dieser Technik wird die Kaste zum Ort sozialer Klassifizierung. Sie erklärt exotisches Verhalten und bietet zugleich deren Kontrolle an. Soziale Gruppen, wie etwa die Kasten, werden von der lokalen Agrarlandschaft abgekoppelt und in eine gesamtindische Sozialenzyklopädie eingerückt.

C) Übersetzungen von indischen Gesetzesbüchern (sowohl die der Hindus wie die der Muslime). Damit glaubt die britische Justizverwaltung im Hinblick auf die Verfahren mit einheimischen Kontrahenten Verständnis und Rechtssicherheit erzeugen zu können. Diese scheinbare Angleichung der kolonialen Rechtsordnung an die Normen und Konfliktspielregeln der Einheimischen enthält jedoch ihre Tücken (die in ihrer Hartnäckigkeit teilweise bis heute nachwirken), denn das indische Vorbild wird unbemerkt in die Zwangsjacke britischer Rechts- und Verfahrensordnung gesteckt und so verfremdet.

D) Darüber hinaus entstehen in der Sozialforschung der britischen Kolonialadministration (denn was sind die bürokratischen Erkenntnistechniken anderes?) konzeptuelle und institutionelle Leitbilder, die über die Kolonialzeit hinaus in der indischen Gesellschaft ihre Prägekraft beweisen. Als solche konzeptuellen Leitbilder sind in erster Linie der Kastenbegriff, die Vorstellung von einer Dorfgemeinschaft ("Village Republic" - ein zeitgenössisches Schlagwort) sowie die der Religionsgemeinschaften von einer langen Lebensdauer gewesen.

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Die Attraktivität, die diese Begriffe aus dem kolonialen Instrumentarium auf die ethnographische Forschung vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgeübt haben, ist unbestreitbar. Ihre Motive und die Genealogie dieser Begriffe sind jedoch bis heute weitgehend im Dunkeln geblieben.

Bürokratische Erkenntnismethoden, wie sie mit der Etablierung des Kolonialsystems in Indien aufgekommen sind, haben die soziale Wirklichkeit neu geordnet und in der Folge Institutionen und Mentalitäten geschaffen, mit dem täuschenden Effekt, Bestehendes als schon lange Dagewesenes erscheinen zu lassen. Dank der kolonialbürokratischen Methoden werden soziale Phänomene wie etwa Kasten, Dorfgemeinden, Stämme oder Religionsgemeinschaften zu verdinglichten Größen, die es als solche zuvor nicht gegeben hatte. Aus dem Kontext des sozialen Lebens gerissen, fanden solche verdinglichten Größen Eingang in Statistiken und enzyklopädische Nachschlagewerke – wie etwa die monumentale „Ethnographic Survey of India“ um 1900. Sie wurden im allgemein zugänglichen Diskurs heimisch. Zugleich wurde die Ethnographie tiefgreifend davon berührt, indem sie das Weltverständnis der kolonialen "surveys" unbemerkt übernahm und "lebensnahe" Feldforschungserfahrungen als Basis jeglicher Forschung forderte.

Die heutigen Diskussionen über den religiös-politischen "Kommunalismus", der die Konflikte zwischen Hindus und Moslems betrifft, die über den gescheiterten Säkularismus, der mit der Unabhängigkeit auf die Tagesordnung kam, belegen die Schwierigkeiten, Lasten der Vergangenheit abzuwerfen. Je mehr sich die Diskutanten dieser kolonialen Vergangenheit bewusst werden und je mehr der Staat in der Lage ist, daraus entspringende Einsichten in eine konkrete Politik des Ausgleichs – und nicht der Fetischisierung der Vergangenheit – umzusetzen, desto mehr sind die Bürger eines so großen Landes wie Indien fähig, dem Teufelskreis von vergangener Prägung und gegenwärtiger Bestätigung des Gehabten zu entrinnen.

Weiterführende Literatur

Carol A. Breckenridge & Peter van der Veer (eds.)(1993): Orientalism and the Postcolonial Predicament. Perspectives on South Asia. Philadelphia, PA
Bernard S. Cohn (1987): An Anthropologist among the Historians and Other Essays. Delhi
Bernard S. Cohn (1996): Colonialism and its forms of knowledge: the British in India. Princeton, N.J.
Veena Das (ed.)(2003): The Oxford India Companion to Sociology and Social Anthropology, 2 Vols. Oxford, New Delhi

Zu den Autoren

Die Fotos stammen von Bärbel Högner aus der Reihe: Indian Rail Maintenance Workshop in Mumbai (Indisches Eisenbahn- instandhaltungswerk in Bombay). Bärbel Högner ist Fotografin mit Schwerpunkt Visuelle Anthropologie, Lehrbeauftragte für Fotografie am IHE in Frankfurt am Main und an der Universität Heidelberg. Die Bildstrecke entstand 2001 im Auftrag der GTZ.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008