Von Dieter Kramer
Die Dekonstruktion des Fortschrittsbegriffes ist in der Entwicklungszusammenarbeit angekommen. Dass im Jahr 2004 das Goethe-Institut, eher für elitenbezogene auswärtige Kulturpolitik und für eine den universellen Werten der Aufklärung verpflichtete kulturelle Verbindungsarbeit bekannt, und die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ), eher praktische und technikzentrierte Entwicklungszusammenarbeit realisierend (nicht, wie die zuständige Ministerin Heidi Wieczorek-Zeul immer wieder betont, paternalistische „Entwicklungshilfe“) zu einem großen gemeinsamen Projekt zusammenfanden, ist ein interessanter Schritt, der einer Diskussion um Inhalte und Perspektiven der Vorstellungen von Entwicklungsidee ebenso wie dem anstehenden Strukturwandel in Nord und Süd im Kontext von Nachhaltigkeit und Wachstumskrisen Anregungen vermitteln kann. Nur ein Schritt in einem langen Prozess sind die sechs gemeinsam veranstalteten nationalen Konferenzen in Alexandria, Dresden, Kaliningrad, Kalkutta, La Paz, Windhoek und die zusammenfassende Konferenz in Berlin am 30. November 2004 (vgl. Projekthomepage www.goethe.de/fortschritt).
Grundstimmung der von Jutta Limbach, der Präsidentin des Goethe-Instituts, und Bernd Eisenblättter, Geschäftsführer der GTZ, eröffneten Schlusskonferenz am 30.11. 2004 war neben der Verständigung darüber, dass man sich nicht auf eine gemeinsame Definition verständigen konnte, die Überzeugung: Es gibt verschiedene Vorstellungen von Fortschritt. Was das aber für das Handeln in der internationalen Zusammenarbeit bedeutet, ist nicht so einfach zu klären: Die Einigung auf abstrakte universelle Werte geht relativ schnell – wenn es konkret wird, entstehen die Schwierigkeiten. Töten und Foltern verteidigt wohl niemand, aber es gibt unterschiedliche Akzentuierungen. Über allgemeine Floskeln hinaus lassen sich Positionen nur konkret erarbeiten. Fortschritt soll die Mühseligkeit der Existenz erleichtern, soll Armut und Elend bekämpfen: Dass dies kein Automatismus des Wirtschaftswachstums ist, betonten die Vertreter aus Indien bei diesen Konferenzen.
Wer aber meinte, angesichts von Not und Elend außerhalb der prosperierenden Industriestaaten (und sogar in ihnen) werde jetzt von außen das Konzept von Wachstum und Fortschritt rundherum bestätigt, der musste bei der Berliner Konferenz eines Besseren belehrt werden.
Wohin gehen wir? fragt eine 2004 in La Paz in Spanisch veröffentlichte Broschüre der Fundacion PIEB, die nach dem Konzept Fortschritt bei den unterschiedlichen Kulturen innerhalb Boliviens fragt. Enrique Camargo, Vertreter der bolivianischen Guarani, stellt fest, dass in den indigenen Sprachen Umschreibungen wie "das gute Leben" dem westlichen Begriff "Fortschritt" am ehesten entsprechen. Adán Pari Rodríguez, Spezialist für interkulturelle bilinguale Erziehung und Repräsentant der Quechua, meint, das europäisch-westliche Fortschrittsmodell trage der bolivianischen Realität kaum Rechnung.
Der Soziologe Félix Patzi, La Paz, vertritt in Berlin sprachgewaltig den Standpunkt, es gebe (mindestens) zwei Vorstellungen von Gesellschaft, die indigene und die europäische. Der indigenen wurde keine Chance gegeben, sich weiterzuentwickeln, nur der europäischen. Mit Selbstbewusstsein fordert er eine Chance, das indigene Potenzial zu aktualisieren. Der Übergang von der Moderne in die indigene Welt (und nicht umgekehrt, der Übergang der indigenen Welt in die Moderne!), betont er, werde andere Sichtweisen hervorbringen. Die europäische Vorstellung von Fortschritt bedeutet für ihn „eine lineare, eindimensionale Entwicklung, die jegliche Nebenwege und Alternativen ausschließe". Die Gemeinschaft der Aymara, in der er lebt, hat stattdessen ein zyklisches Fortschrittsmodell, für das es keinen Anfang und kein Ziel gibt.
Auf solche Diskussionen wird man sich einlassen müssen. Machbarkeitsvorstellungen, wie sie bei der GTZ und dem BMZ verbreitet sind, neigen dazu, kulturelle Faktoren zu instrumentalisieren: Wenn wir Kultur nicht mitdenken, werden wir scheitern, sagt man gern in diesem Zusammenhang und meint damit, dass Modernisierungsprojekte Rücksicht auf kulturelle Gegebenheiten nehmen müssen. Aber umgekehrt kann auch ein Schuh daraus werden: Die (akzeptierte, praktizierte) Kultur einer Gemeinschaft definiert das Ziel, wohin Entwicklung gehen soll. Und hinter dem „westlichen“ Modell von Fortschritt und Entwicklung hängt ja auch ein ganzer Rattenschwanz von kulturellen, philosophischen, ideologischen Vorstellungen.
Damit lässt sich anknüpfen an andere Diskussionen: War in der Philosophie der Klassik und Nachklassik der Fortschritt verstanden als angestrebte Herrschaft der Vernunft und vernünftig geregelter gesellschaftlicher Verhältnisse, so wird im 20. Jahrhundert daraus ein unendlicher, immer weiter gehender linearer materieller Fortschritt. Entwicklung kann transitiv und intransitiv verstanden werden: Ich entwickle etwas, oder ich entwickle mich. Der vorherrschende technische Implementationsbegriff von Entwicklung lässt wenig Raum für den Anspruch, einen eigenen Weg von Entwicklung zu definieren.
Positionen wie die der bolivianischen Indigenas sind auch nicht unangefochten. Für Guadelupe Cajías fehlte in der Diskussion in Bolivien eine integrale Sichtweise Lateinamerikas, bei der indigene, europäische und afrikanische Prägungen vereint werden. Gegen die bolivianische Philosophie des Lebens in Einklang mit der Natur steht in Berlin eine frankophone marokkanische Position, die gegen das Loblied des Primitivismus und Archaismus die Werte der Aufklärung und des Fortschrittes verteidigt (Muhamed Savila, Rabat), gleichwohl aber wird auch für die Muslime eine eigene Version von Fortschritt und Modernisierung eingefordert.
Die Hoffnung auf neue Renaissance-Projekte in der arabischen Welt, bei denen freilich auch das Verständnis von Entwicklung diskutiert werden muss, wird von El Sayed Yassin (Kairo/Amman) vertreten. Gefordert wird, Europa mit den Augen des Orients zu sehen, oder, noch akzentuierter, ein Okzidentalismus, der den Westen aus der selbstbewussten Position der arabischen Peripherie kritisiert. Die islamischen Länder bedauern es, den Anschluss an die Moderne nicht geschafft zu haben, und fragen nach den Gründen dafür. Aber auch mit dem Islam ist Modernisierung denkbar, wie zum Beispiel Malaysia belegt.
Zu den interessantesten Exporten Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte neben der Frankfurter Schule der Kultursoziologie die klassische deutsche Philosophie: Immanual Kant steht weltweit für die Überzeugung, dass nicht alles einen Preis hat und nicht alles dem Markt unterworfen werden kann. Die Würde des Menschen und sein gleichzeitig vernunftgemäßes und ethisches Handeln sind nicht verhandelbar. Aber der bei der Berliner Konferenz auch vertretene kulturrelativistische Anspruch, dass es kulturspezifisch unterschiedliche Vorstellungen von Fortschritt, „different visions of the world“, unterschiedliche Modernitäten gibt, wäre eine nicht hinnehmbare Herausforderung für den Universalismus der Aufklärung gewesen, und mit den Bolivianern hätte sich Kant heftig streiten müssen. Sie hätten eher den Part von Kants damaligem Opponenten Johann Gottfried Herder eingenommen, der auf dem eigenen Recht jeder Kultur beharrte.
Im Zusammenhang mit der jeweiligen Definition von Moderne findet auch eine ständige Neuinterpretation der Tradition statt. Sie ist keine feste Größe, wie Surendra Munshi aus Kalkutta betont. Tradition kann auch ein Luxus der oberen Klassen sein, und Musealisierung oder Neuerfindung von Tradition wird des Marktes wegen vorgenommen. Tradition wird von indischen Vertretern auch als Korrektiv für die Exzesse der Modernisierung betrachtet, ähnlich wie bei der Konferenz in Namibia ein Existenzrecht nicht nur für die indigenen Völker, sondern auch für deren Lebensweise gefordert wurde und in Bolivien die Segnungen des Fortschritts dem Konzept des traditionellen Gemeinschaftslebens untergeordnet werden sollen (Marion Frank: „Wenn wir Kultur nicht mitdenken, werden wir scheitern.“ In: Zeitschrift Entwicklungspolitik 21-22/2004, S. 43 – 46).
Globalisierung ist Kolonisierung, Ausbeutung, Entwicklungshilfe mit Vorschriften, Privatisierung von geistigem Eigentum, aufgezwungene technologische Innovationen: So definierte es ein Vertreter aus Namibia. Für den derzeit in den USA lebenden südafrikanischen Autor Breyten Breytenbach, dessen Referat in Berlin verlesen wurde (er musste fürchten, bei der Wiedereinreise in die USA Schwierigkeiten zu bekommen), ist Globalisierung „der Deckname für rohe weltweite kapitalistische Ausbeutung“, während für ihn „Bereicherung durch Differenz“ „innerhalb des weiteren Kontextes gemeinsam geteilter Werte“ wünschenswert ist.
In Kaliningrad verstand bei einer kleinen Befragung die überwiegende Mehrheit der Befragten Fortschritt als Akzeptanz des modernen technologischen Weges des Westens. Aber, meinte ebenfalls eine Mehrheit, das westliche kapitalistische System kann nicht universell auf andere Kulturen übertragen werden, da jede Gesellschaft ihre eigenen kulturellen und sozialen Besonderheiten hat: Einbettung statt Entbettung ist gefragt. Aber die Tendenz läuft eigentlich umgekehrt, und darin liegt ein Dilemma – keine Tragik, da man davon ausgehen kann, dass keineswegs das Ende vorgezeichnet ist. Möglich ist es, anzuerkennen, „dass die eigenen Werte in einen kulturellen Kontext eingebettet sind und keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben können“ (Marion Frank).
Einiges blieb in den Diskussionen weitgehend ausgeklammert: die Größenrelationen und die Machtverhältnisse zum Beispiel. Bolivien hat etwa acht Millionen Einwohner, davon sind etwa 60 Prozent indigene Bevölkerung (Indianer). Aber was sind diese acht Millionen, wenn allein in einer Stadt wie Kairo 16 Millionen Menschen leben? Und ist die Rolle des kleinen Zweimillionenstaates Namibia, in dem eine der sechs Konferenzen stattfand, nicht noch bescheidener? Immerhin: In der vergleichsweise winzigen Welt von Weimar hat einst eine kleine Gruppen von Intellektuellen die globalen Fragen der Zeit nach der Französischen Revolution so einflussreich neu gestellt, dass wir heute noch davon inspiriert werden.
Angesichts des völligen Fehlens der USA und der von ihr vertretenen Perspektive könnte man argumentieren: Was soll dieser Versuch, Fortschritt und Modernisierung zu hinterfragen, wenn der Hegemon notfalls mit Gewalt seine Vorstellung von Fortschritt und Marktwirtschaft durchsetzt? Aber vielleicht liegt ja auch eine besondere Bedeutung darin, dass hier neben den USA andere Vorstellungen von Fortschritt und Entwicklung überhaupt diskutiert werden, und es könnte sein, dass Europas Chance darin liegt, sich von ihnen inspirieren zu lassen.
Für mich war eine weitere Einsicht wichtig. Üblicherweise wird gefragt: Was können wir von den Anderen lernen? Ich frage stattdessen jetzt: Wie gehen wir mit dem erhobenen Anspruch der Anderen um, eigene Versionen von Fortschritt, die sich von unseren unterscheiden, berücksichtigt sehen zu wollen? Und könnte aus der Auseinandersetzung mit diesen integralen Ansprüchen auf eine andere Form von Modernisierung nicht mehr hervorgehen als die punktuelle, dann doch wieder scheiternde Anregung, das eine oder andere zu verändern? Dabei kann auch darüber nachgedacht werden, wie denn so schöne Maximen der bolivianischen Gemeinschaften, wie die vom Leben in Einklang mit der Natur, zusammengehen können mit Konzepten der Bekämpfung von Elend und Not durch wirtschaftliche Entwicklung. Über die Grenzen des Wachstums, für jeden Naturwissenschaftlicher eine Selbstverständlichkeit, muss auch in der internationalen Gesellschaftspolitik immer wieder neu nachgedacht werden. Und ohne ein wenig Universalgeschichtsphilosophie wird das auf Dauer nicht gehen.
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008