Von Mona Suhrbier
Ein Bundesbürger besitzt laut Statistik im Durchschnitt zehntausend Dinge. Obwohl in Industriegesellschaften die meisten Dinge angehäuft werden und sich ein großer Teil des Denkens und Wirkens der Menschen um deren „Produktion“, „Konsum“ und „Entsorgung“ dreht, wird im westlichen Denken das Materielle als weniger bedeutungsvoll angesehen als das Ideelle.
Worauf beruhen unsere eigenen, ganz alltäglichen Einstellungen zu Gegenständen? Auf Erfahrung, Wissen, „gesundem Menschenverstand“? Das westliche Selbstverständnis Dingen gegenüber ist sicherlich geprägt von der jahrhundertealten Debatte zwischen abendländischen Philosophen über das Ding: Im Verlauf dieser Debatte wurden Gegenstände immer mehr ihrer sinnlichen Eigenschaften beraubt. Nicht die trügerischen Sinne sollten Gegenstände erkennen, sondern der Geist. Laut Descartes bestimmen nicht Duft, Farbe, Starrheit oder Weichheit den Gegenstand, sondern geometrische Eigenschaften, wie etwa die Ausdehnung. Das Ding wurde zur naturwissenschaftlichen Tatsache. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit der „kopernikalischen Wende“ Kants endete schließlich die eigenständige Existenz der Dinge, und die Atome wurden Stellvertreter der objektiven Welt.
Lange Zeit wurden Gegenstände also weniger der Kultur als vielmehr der Natur zugeordnet. Diese Sicht mündete in der im Westen verbreiteten Vorstellung, Dinge seien in erster Linie nützlich und hätten praktische Funktionen zu erfüllen. In der modernen Philosophie hingegen gelten die Dinge heute wieder als Partner der Menschen, und man betrachtet sie im Zusammenhang mit ihren eigenen Geschichten. Der heute längst überholte naturwissenschaftlich-mathematische Blick auf den Gegenstand hat sich allerdings in der Bevölkerung als Populärwissen etabliert und wird auch im Schulunterricht immer noch kritiklos weitervermittelt.
Mit dem neuen Interesse an der gesellschaftlichen und sozialen Bedeutung von Dingen hat sich die westliche Philosophie Vorstellungen angenähert, wie sie in indigenen Gesellschaften seit langem verbreitet sind. Dort gelten Alltagsgegenstände nicht nur als nützlich, sondern sind Symbole und Partner der Menschen. In indigenen Schöpfungsmythen wird erzählt, wie Ahnen und erste Menschen einst gemeinsam mit ihren Gegenständen entstanden: Männer betraten die Welt mit Waffen, Frauen mit Körben, Töpfen, Netzen. Seit dieser Zeit - so ist die Vorstellung nicht nur bei Amazonasindianern - wirkt die Kraft der Schöpfung in jedem Ding: in Korb, Topf, Hängematte, Pfeil und Bogen ebenso wie in Geistermaske, heiliger Flöte oder Festschmuck. Die Herstellung eines Gegenstandes ist daher weit mehr als ein Handwerk – es ist vielmehr ein Schöpfungsakt. Ein Handwerker erschafft in der Außenwelt eine materielle Entsprechung zu dem, was einst in der Schöpfung geschah und was aktuell in seinem/ihrem eigenen Inneren geschieht, zum eigenen Wissen, Fühlen und Vorstellen.
Ihr ganzes Leben hindurch verbinden sich Menschen mit Dingen - körperlich und emotional. Bei indigenen Völkern Amazoniens kann die Seele eines Verstorbenen erst dann im Jenseits wiedergeboren werden, wenn die irdischen Fesseln beseitigt sind. So machen sich die Verwandten daran, den gesamten persönlichen Besitz eines(r) Verstorbenen allmählich zu zerstören: Dinge werden zerbrochen, verbrannt, in den Fluss oder Wald geworfen. Die Hinterbliebenen verarbeiten allmählich ihre aufgewühlten Gefühle, während sie einen Gegenstand nach dem anderen zerstören: Die anfängliche Wut über den Verlust des geliebten Menschen wird allmählich zu Trauer und schließlich zu Erinnerung. Bei Amazonasindianern sind Dinge nicht für die Ewigkeit gemacht. Masken etwa werden nur für ein einziges Fest gefertigt und danach weggeworfen. Selten überdauert ein Gerät die Generation seines Herstellers. Da Dinge nicht angehäuft werden, können sie auch nicht zum Ausbau von Macht beitragen. Die Anforderung, sich seine Gegenstände selbst herzustellen, eröffnet dem Individuum große Möglichkeiten bei der kreativen Gestaltung der eigenen Welt.
Die Art, wie man über Dinge denkt und wie man mit ihnen umgeht, ob man sie für nützlich, schön, hässlich, wertvoll und ähnliches hält, ist von Kultur zu Kultur unterschiedlich. Jede Kultur erfindet die Dinge, die sie braucht. Doch ihren Wert erhalten Gegenstände meist erst aus und in der Beziehung zu anderen Menschen.
Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008