KRIEGE SIND NICHT ETHNISCH

Ethnos und Ethnizität im politischen Kontext aus der Sicht der Ethnologen des Museums der Weltkulturen Frankfurt am Main

Von Dieter Kramer

Häufig ist in Medien, Politik und der breiten Öffentlichkeit von „ethnischen Kriegen“ oder „ethnischen Säuberungen“ die Rede. Durch die Verwendung des gängigen, scheinbar wissenschaftlichen Adjektivs „ethnisch“ erhalten solche Aussagen den Anschein von Sachlichkeit und Kompetenz. Aber ethnische Unterschiede und sich auf sie beziehende Ideologien sind nie die Ursache von Kriegen. Sie können jedoch als Mittel zur Mobilisierung in Konfliktfällen missbraucht werden. Ein Begriff wie „ethnischer Konflikt“ erklärt überhaupt nichts, sondern trägt im Gegenteil zu einer Verschleierung der tatsächlichen Ursachen bei. Wer unbedacht mit dem Attribut „ethnisch“ verbundene Schlagworte im politischen Diskurs einsetzt, unterstützt damit ungewollt jene, die mit dem bequemen Verweis auf eine angeblich schicksalhafte Allmacht des „Ethnischen“ Krieg und Gewalt zur Durchsetzung von Machtinteressen, zur Verteidigung von Privilegien oder zur Ausgrenzung von Minderheiten einsetzen. Die folgenden Thesen wollen im Einklang mit den Erfahrungen der ethnologischen Wissenschaft eine andere Sichtweise vorschlagen.

  1. Alle Menschen sind Mitglieder einer spezifischen Gruppe, der eine bestimmte Lebensweise (Kultur) in facettenreichen Ausprägungen mehr oder weniger gemeinsam ist. Solche Gruppen werden als Ethnie oder Ethnos bezeichnet. Ihre jeweiligen Besonderheiten (auch ethnisch-kulturelle Identität genannt) gründen in historischen, geographischen und sozialen Rahmenbedingungen. Sie prägen sich aus in Sprache, Religion, Rechtsnormen, Werten, Standards und Symbolen. Mit ihnen unterscheiden sich Gruppen (Ethnien) voneinander. Diese Besonderheiten, diese symbolischen Ordnungen des gemeinschaftlichen Lebens, die eine Ethnie als charakteristisch für sich hält und die andere ihr zuschreiben, können als ihre Kultur bezeichnet werden. Eine Ethnie ist über die gemeinsame Kultur hinaus noch durch eine gewisse Stabilität des Lebensraumes und der Familienbildung gekennzeichnet. Die symbolische Ordnung der Kultur bedeutet für die handelnden Individuen eine unerlässliche Orientierung bei der Gestaltung ihres gemeinschaftlichen Lebens. Zur Natur der Menschen gehört es, sich kulturell zu definieren. Die Vielfalt existierender Kulturen und Ethnien ist nicht nur wesentlicher und sinntragender Bestandteil der menschlichen Existenz, sondern auch Voraussetzung dafür, dass Menschen unter den verschiedensten äußeren Bedingungen dauerhaft gemeinschaftlich zusammenleben können.
  2. Ethnien sind nie homogene Gebilde. Die in ihnen lebenden Individuen haben je nach Geschlechts-, Klassen-, Schichten-, Altersgruppenzugehörigkeit stets je besondere Interessen und Motive. Diese Unterschiede bestimmen neben und mit der Zugehörigkeit zu ihrer Ethnie ihr Handeln. Es gibt daher auch keine homogenen ethnischen Gemeinschaften, mögen sie auch noch so klein sein. In allen gibt es koexistierende unterschiedliche kulturelle Ausprägungen, zum Beispiel der Altersgruppen, der Generationen, der Berufsgruppen oder anderer Subkulturen. Auch innerhalb vermeintlich einheitlicher Ethnien ist so die Herausforderung des Umgangs mit dem anderen ständig gegeben.
  3. Es gibt folglich auch keine Reinheit für eine Ethnie, so wie es auch keinen Urzustand gibt, zu dem man zurückkehren könnte. Alle Ethnien und Kulturen unterliegen einem steten Wandel, wie auch Nationen sich kontinuierlich verändern. Wandel im Inneren vollzieht sich aufgrund einer stets vorhandenen Spannung zwischen etablierten Gruppennormen und den Interessen der Teilgruppen, aber auch dank der über die Grenzen der Tradition hinausdenkenden kreativen Individuen und aufgrund neu erschlossener Möglichkeiten. Schon immer wurde Wandel auch hervorgerufen durch Außenkontakte mit anderen Bevölkerungsgruppen.
  4. Die Erfahrung ethnischer und kultureller Vielfalt ist prägend sowohl für die individuelle Sozialisation als auch in der sozialgeschichtlichen Entwicklung. Die Anerkennung von Vielfalt befähigt dazu, andere zu respektieren. Kulturelle Vielfalt als Herausforderung und Bereicherung zu erleben und zu akzeptieren fördert Friedensfähigkeit. Kulturelle Homogenität hingegen ist keineswegs ein Garant für dauerhaften Frieden. Sie provoziert im Gegenteil die Ausgrenzung derjenigen, die nicht in das konstruierte (keineswegs naturgegebene) Schema der eigenen Gruppe passen. Sie schließt zudem die sozialen Konflikte innerhalb von Gesellschaften keineswegs aus, von denen zum Beispiel das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert geprägt waren.
  5. Je größer Gemeinschaften dieser Art sind, desto mehr Teil- und Untergruppen kann es in ihnen geben - bis hin zu den Gesellschaften der modernen Nationalstaaten, in denen Religion, Sprache, Wertsysteme nicht mehr für alle gleich verbindlich sind, gleichwohl aber eine gemeinsam akzeptierte Staatlichkeit den notwendigen Rahmen für das Zusammenleben sichert. Unterschiedliche Ethnien, Kulturen und Religionsgemeinschaften haben in den gleichen Territorien bei funktionierender Staatsgewalt meist jahrhundertelang so produktiv miteinander gelebt, wie bei uns Katholiken, Lutheraner, Reformierte und Atheisten oder wie Preußen und Bayern.
  6. Kulturen und Ethnien können sich aufspalten in auseinander strebende Gruppen oder mit anderen in gegenseitiger Durchdringung verschmelzen. Das Ergebnis solcher Verschmelzung ist nicht einfach die Summe der Ausgangselemente - es ist etwas qualitativ Neues. Weil durch Arbeitsmigration, Vertreibungen oder Flucht Ethnien sich fortwährend verändern, gibt es auch keine Position „Zwischen den Kulturen“ oder „Zwischen den Stühlen“. Was entsteht, sind neue eigenständige Lebensformen, die weder mit der Herkunfts- noch mit der Gastgeberkultur deckungsgleich sind. Nicht eine rückhaltlose Integration ist das Ergebnis, sondern eine allmähliche Veränderung der Kultur, wie sie in allen Phasen auch der deutschen Geschichte immer wieder stattgefunden hat. Wert- und Loyalitätskonflikte, die dabei entstehen, sind keineswegs nur ein Problem der Migranten, sondern sie sind in Entscheidungssituationen für jeden Menschen eine alltägliche Erfahrung.
  7. Weil die kulturelle Spezifik und die Unterscheidung von den anderen dazu beiträgt, den Zusammenhalt von Gemeinschaften zu stärken, werden sie vielfach bewusst gefördert: „Identitätsmanagement“ und “Ethnopolitik“ sind Bezeichnungen für den Versuch, die Mitglieder einer Gemeinschaft auf sie einzuschwören („Dein Volk ist alles, du bist nichts“ war die Formel der Nationalsozialisten dafür). Der Eindruck wird erweckt, diese Zugehörigkeit sei unabänderliches Schicksal und die Gemeinschaft sei ein unveränderliches Gebilde, gegründet durch mythische Helden in grauer Vorzeit. Solche bewussten Konstruktionen unterschlagen, dass Ethnien veränderlich, vielgestaltig und mehrdeutig sind.
  8. Eine bestimmte ethnische Gruppe zu bevorzugen und ihr eine besondere Reinheit, Auserwähltheit, Authentizität oder Sendung zuzuschreiben bedeutet in aller Regel, Privilegien für diese Gruppe durch Benachteiligung und Diskriminierung anderer zu gewinnen. Dies biologisch, sonst wie wissenschaftlich oder religiös begründen zu wollen ist nichts weiter als der leicht durchschaubare Versuch, solche besonderen Vorrechte symbolisch und ideologisch abzusichern. Praktiken dieser Art provozieren Spannungen, wie in vielen Teilen der Welt erkennbar ist, zum Beispiel im ehemaligen Jugoslawien, in Israel und an vielen anderen Orten. Wer die durch solche Ideologien provozierten gewaltförmigen Auseinandersetzungen zwischen mehreren Gruppen als ethnisch oder religiös bedingt bezeichnet, unterstützt Heuchelei und Verschleierung.

Angesichts des skizzierten Missbrauchs der Begriffe empfehlen wir, nicht mehr zu reden von ethnischen Kriegen oder Konflikten, auch nicht von solchen, die angeblich aus kulturellen oder religiösen Gründen entstehen. Wir schlagen vor, die Erscheinungen ehrlicher zu benennen und zu reden von Gewalt gegen Fremde aus Egoismus, von Raub aus Besitzgier, von erzwungener Integration aus Machtinteressen, von Mord und Vergewaltigung aus Sadismus, von Diskriminierung aus Neid, von Ausgrenzung aus Überheblichkeit. Der ethnologischen Wissenschaft entlehnte Begriffe sollen nicht benutzt werden, wenn Gruppen von Menschen aus egoistischen und machtpolitischen Gründen mit schlimmen, ja tödlichen Folgen ausgegrenzt werden. Wenn wir das heute bei den einen dulden, kann es morgen auch uns treffen.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008